Während Geschlechtergrenzen sowie geschlechterspezifische Stereotypen in der heutigen Zeit mehr und mehr reflektiert oder sogar bereits aufgebrochen werden, so waren die Rollen von Mann und Frau in früheren Jahrhunderten durch gesellschaftliche Normen strikt festgelegt. Demnach ist es nicht allzu verwunderlich, dass sich auch in der damaligen Literatur teils wiederkehrende Muster bezüglich der Darstellungen männlicher beziehungsweise weiblicher Attribute auffinden lassen. Genau diese Muster sollen hier nun in Ansätzen näher beleuchtet werden, sodass ein Eindruck vom Frauen- und Männerbild in literaturgeschichtlicher Hinsicht entstehen kann.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts, also zu Zeiten der Aufklärung, trugen wissenschaftliche und ökonomische Veränderungen sowie technische Errungenschaften dazu bei, dass sich Arbeit und Familie deutlicher voneinander trennten. Im Vergleich zu mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Strukturen, welche beispielsweise noch die gesamte Familie dazu zwangen, gemeinsam auf dem eigenen Hof zu arbeiten, kam es durch besagte Trennung von Familie und Arbeit nun dazu, dass ein Elternteil zur Arbeit gehen und das andere derweil Kinder sowie Haushalt umsorgen musste.
Hier wurde folglich der Mann als Arbeiter und die Frau als Hausfrau etabliert – eine Festlegung gesellschaftlicher Aufgaben, bestimmt durch das Geschlecht. Da die Literatur sich eines gesellschaftlichen Bezugs nicht verweigern kann, griffen auch Schriftsteller das Thema der Geschlechterrollen in ergründender oder teils kritischer Weise auf, zumeist noch mit pädagogischer Intention verknüpft.
Ende des 18. Jahrhunderts bekam die aufklärerische Strömung „Konkurrenz“ von den Motiven der Weimarer Klassik, welche ihre Werke an Ideale antiker Schriften anlehnte. An dieser Stelle muss allerdings zunächst zweierlei betont werden, denn erstens ist eine klare Trennung zwischen den Epochen nicht möglich, da sie fließend ineinander übergehen, und zweitens ist die Darstellung der Geschlechter in der Literatur nicht zwingend repräsentativ für das tatsächliche Geschlechtergefüge der jeweiligen Zeit.
Dennoch lässt sich an einigen literarischen Figuren beispielhaft etwas über Geschlechterzuschreibungen erkennen. Einer der prominentesten Vertreter der Weimarer Klassik war zweifellos Johann Wolfgang von Goethe und eines seiner bekanntesten sowie relevantesten Werke war wiederum Faust. Ganz abgesehen von Faust selbst und Mephisto ist vor allem Gretchen als eine zentrale Figur für die Handlung anzusehen, da sie Fausts persönlichen Werdegang maßgeblich mitbestimmt, denn in ihr bündelt sich Fausts Begierde.
Hier wird ein Motiv deutlich, eine Art Hierarchisierung durch Patriarchie, wie man sie eben auch in antiken Weltbildern findet. Die Frau sei entsprechend vorrangig als Objekt lieblicher und leiblicher Begierde für den Mann da. Sie erhält demzufolge gleichsam ihre Daseinsberechtigung lediglich dadurch, dass sie im Verhältnis zu einem männlichen Handlungsträger steht und richtet ihr Leben – und in Gretchens Fall sogar ihren Tod – nach einem Mann. Es sei jedoch nochmals erwähnt, dass dies nur ein mögliches Beispiel für die Unterschiedlichkeit der Ausgestaltung männlicher und weiblicher Protagonisten darstellt, wenngleich es mit Sicherheit nicht das einzige literarische Werk mit einer Rollenverteilung jener Art ist.
In der Romantik, welche vom Ende des 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aufblühte, war es – wenig überraschend – ebenfalls das Liebesmotiv, welches mit Geschlechterrollen hantierte. Auch hier waren Frauen als die reineren Geschöpfe Objekte männlicher Begierde, allerdings zum Teil durchaus nicht willenlos dem Mann ergeben. In der Liebe näherten sich Mann und Frau wieder an, überwanden zwar gesellschaftliche Grenzen, aber nichtsdestotrotz war die Perspektive der Handlung zumeist eine männliche. Weibliche Stärke, Macht und Unnahbarkeit wurden inszeniert, um Sehnsüchte der Männerwelt zu wecken und zu stillen.
Im Einzelnen gibt es viele Facetten der Geschlechterrealitäten von Mann und Frau, denn sowohl Gesellschaft als auch Literatur haben sich gegenseitig verändert und geprägt und tun dies auch noch bis heute. Wichtig ist, dass man sich darüber klar wird, dass einzelne Figuren aus verschiedensten literarischen Werken zwar auf gesellschaftlich etablierten und praktizierten Geschlechtsmustern basieren können, aber im Rahmen einer Handlung dennoch eine vielschichtigere Bedeutung entwickeln, die mal mit dem geschlechterspezifischen Bild der Gesellschaft zur jeweiligen Zeit konform ist, mal wieder nicht – doch innerhalb der Handlung spielt jede Figur für sich eine eigene Rolle.