Der Hauptmann. Woyzeck
Woyzeck rasiert wortkarg den Hauptmann, während dieser philosophiert und seinen Untergebenen mit seinen Problemen belastet. Durch den Mangel an Krieg leidet der Hauptmann unter Langeweile und Beschäftigungslosigkeit, sodass er sein Leben nahezu für sinnlos hält und glaubt, man habe auf der Welt einfach zu viel Zeit. Die Hektik Woyzecks stört ihn erheblich, da so das Rasieren zu schnell vorübergehe.
Im ersten Teil des Gespräches antwortet Woyzeck dem Hauptmann nur mit militärischen Floskeln („Jawohl, Herr Hauptmann“) und man bekommt als Leser den Eindruck, er höre seinem Vorgesetzen gar nicht zu. Der Hauptmann stellt dem verhetzten Woyzeck eine Falle, indem er ihn nach dem Wetter fragt und ergänzt, es sei Wind aus „Süd-Nord“. Als Woyzeck nun daraufhin wieder nur mit der militärischen Formel zustimmt, verspottet er Woyzeck: „O, Er ist dumm, ganz abscheulich dumm.“
Im weiteren Verlauf lenkt der Hauptmann das Gespräch auf Woyzecks uneheliches Kind und nun beginnen sie eine Diskussion über Tugend, Moral und Geld. Im Zuge dieses Gesprächs behauptet Woyzeck: „Sehn Sie, wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine anglaise (=Gehrock) und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muss was Schöns sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.“
Der Hauptmann allerdings hält daran fest, dass man nur als tugendhafter, moralischer Mensch auch ein guter Mensch sei und dass man seine Triebe (die Natur) beherrschen müsse – die Ausführungen Woyzecks verwirren ihn und er bricht das Gespräch ab, weil ihn dieses angestrengt habe.
- In dieser Szene nun wird das Verhältnis von Ober- und Unterschicht am Beispiel von Woyzeck und seinem Vorgesetzten, dem Hauptmann, gezeigt.
- Es wirkt nahezu skurril, dass der Hauptmann Woyzeck mit seinen Luxusproblemen der Langeweile behelligt und von diesem verlangt, sich nicht so zu hetzen, während Woyzeck jede Sekunde seines Tages arbeiten muss, um überhaupt sein Leben und das seiner Familie bestreiten zu können.
- Das Machtverhältnis zwischen den beiden wird auf mehreren Ebenen verdeutlicht: Zunächst einmal steht Woyzeck und bedient seinen Vorgesetzen, während dieser sitzt. Weiterhin führt der Hauptmann das Gespräch. Er bestimmt, worüber gesprochen wird, und auch die Gesprächsanteile sind symbolisch zu verstehen. Im ersten Teil, in dem Woyzeck sich selbst vollkommen in der unterlegenen Rolle befindet, antwortet er nur mit knappen, seiner Rolle als Soldat entsprechenden Zustimmungen, während der Hauptmann vor sich hin philosophiert. Selbst die Beleidigung seiner Person nimmt Woyzeck hin. Als jedoch sein Kind angegriffen wird, wendet sich das Blatt: Woyzeck versucht hier, sich durch logische Argumente gegen seinen Hauptmann und dessen idealisierte Vorstellungen von Moral und Tugend aufzulehnen. Er erklärt, dass er als armer Mensch, dem die materiellen Mittel zum Heiraten fehlen, gar nicht tugendhaft leben kann, denn auch die armen Menschen haben sexuelle Triebe. Es werde ihnen aber unmöglich gemacht, diese moralisch einwandfrei auszuleben.
- In dieser Argumentation wird Woyzeck als dem Hauptmann intellektuell überlegen präsentiert, dieser kann den Ausführungen des einfachen Soldaten nicht folgen, er kann sich nicht in die Rolle der einfachen Bevölkerung hineinversetzen. Dennoch ist er es, der das Gespräch beendet – diese Autorität hat er allein wegen seiner Zugehörigkeit zur höheren Gesellschaftsschicht.
- Dadurch wird die Kluft zwischen den sozialen Schichten aufgezeigt: Büchner veranschaulicht die Ignoranz der gut situierten Bürger und Adeligen gegenüber den Problemen der einfachen Bevölkerung sowie deren Gleichgültigkeit ihnen gegenüber. Er geht sogar so weit, dass er deren unangemessene Ansprüche an die soziale Unterschicht verdeutlicht. Der Hauptmann selbst, als Vertreter der zu Büchners Zeit typischen Offiziere/Mitglieder des höheren Militärs, wird karikiert: Er hält sich für idealistisch, indem er Tugend und Moral und deren strikte Einhaltung predigt, gleichzeitig aber demütigt er selbst seinen Untergebenen. Außerdem weisen die Ausführungen des Hauptmanns viele Plattitüden, Wiederholungen und geistlose Worthülsen auf, wodurch deutlich wird, dass er keineswegs gebildet ist. Er bezieht seinen eigenen Wert daraus, dass er seine Untergebenen erniedrigt.
- Woyzeck wiederum wird in dieser Szene als Materialist und Determinist gekennzeichnet: Er ist fest davon überzeugt, dass der Mensch zunächst auf die Erfüllung der Grundbedürfnisse angewiesen ist und dass ohne Geld auch die Seele bzw. Werte wie Moral und Tugend bedeutungslos sind. Außerdem ist er fest vom sozialen Determinismus bzw. Fatalismus überzeugt, davon, dass arme Menschen arm bleiben und nicht aus eigener Kraft etwas an ihrer Situation ändern können („ich glaub, wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.“)
Marie und der Tambourmajor befinden sich in Maries Kammer, bewundern einander und begehren sich. Marie sträubt sich zunächst, aber gibt dann nach mit den Worten „Meintwegen. Es ist alles eins.“
Hier nun kommt es zum Höhepunkt der Affäre zwischen Marie und dem Tambourmajor: Die beiden schlafen miteinander. Es zeigt sich aber in dem Gespräch vor dem Vollzug, dass es beiden nicht um wahre Liebe, sondern um körperliche Befriedigung geht. Der Tambourmajor schätzt an Marie ihr gutes Aussehen und will „eine Zucht von Tambourmajors anlegen“, also einem animalischen Fortpflanzungstrieb folgen. Marie wiederum ist ebenfalls vom guten Aussehen des Tambourmajors angetan – deshalb die Vergleiche mit starken Tieren – gleichzeitig erlebt sie das Interesse dieses Mannes an sich aber auch als gesellschaftliche Aufwertung: „Ich bin stolz vor allen Weibern.“ Zudem kann auch sie ihren Sexualtrieb ausleben – dies deutet darauf hin, dass Woyzeck dies in seiner schlechten Verfassung nicht mehr leisten kann.
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Schließlich wird wieder klar, dass Marie auch hier die moralische Werteordnung ihrer Welt ablehnt und fatalistisch davon ausgeht, dass ihr Handeln ohnehin nichts ändert: „Meintwegen. Es ist alles eins.“