Marie sitzt zusammen mit drei Kindern und der Großmutter vor der Haustür. Nachdem die Kinder zuerst gemeinsam gesungen, dann mit Marie getanzt haben, erzählt die Großmutter auf Maries Bitten ihr und den Kindern das Märchen vom Sterntaler als Anti-Märchen mit traurigem Ende: „und war ganz allein, und da hat sich’s hingesetzt und geweint und da sitzt es immer noch und ist ganz allein“. Woyzeck kommt und nimmt Marie mit sich.
Diese Szene kurz vor dem Mord hat im Wesentlichen zwei Funktionen:
Die Reflexion der Dramenhandlung/der Situation Woyzecks über das Märchen der Großmutter: In dem Märchen greift die Großmutter einige der Elemente aus dem Sterntalermärchen der Gebrüder Grimm auf. Jedoch werden die typischen Merkmale eines Märchens (Sieg des Guten über das Böse, Funktion des Trostes und der glücklichen Wendung, hilfreiche Reisebekanntschaften) radikal ins Gegenteil verkehrt. Anstatt dass das arme, einsame Kind, das sich nach dem Tod seiner Eltern auf den Weg macht, auf seiner Reise freundliche und hilfsbereite Wesen trifft, erlebt das Kind nur schreckliche und hoffnungslose Orte, sodass es letztlich allein und für immer weinend auf der Welt zurückbleibt. Hier wird in gewisser Weise die Situation Woyzecks reflektiert: Auch er gehört zur armen Gesellschaftsschicht und egal, wen er um Hilfe in seiner Situation ersucht, wird er nur gedemütigt und alleingelassen, ja, es werden ihm noch Steine in den Weg gelegt. Selbst Marie, auf die er immer zählen konnte, hat ihn letztlich verraten, sodass er schließlich allein, hoffnungslos und lebensmüde zurückbleibt.
Man könnte natürlich auch davon ausgehen, dass dieses Märchen eine Vorausdeutung auf die Situation ist, in der sich Christian nach dem Tod seiner Mutter befinden wird, wenn Woyzeck als Mörder verurteilt wird.
Schließlich kann man das Märchen auch allgemein als Ausdruck der materialistischen, fatalistischen und deterministischen Weltsicht Büchners lesen: Es drückt schließlich aus, dass der Mensch trotz allen Bemühens nicht in der Lage ist, sich gegen seine soziale Determinierung und sein Schicksal aufzulehnen und dass die idealistische Hoffnung auf das Gute (vielleicht auch auf einen gerechten Gott) aussichtlos ist.
Vorausdeutungen auf den Mord/Schaffen einer bedrückenden Stimmung:
Untersucht man die bildhafte Sprache dieser Szene genauer, fällt auf, dass sich gehäuft Hinweise auf den bevorstehenden Mord finden lassen: So graut es bereits dem zweiten Kind vor den „rote Sock“ aus dem eigentlich fröhlichen Frühlingslied („S´ is nit schön.“), sodass man dies als Zuschauer als Andeutung auf Blut verstehen kann. Marie selbst spricht dann, ohne ersichtlichen Grund, von „König Herodes“, dem Kindsmörder, der alle Jungen hat umbringen lassen, um das Jesuskind zu ermorden. Auch hier wird also wieder die Assoziation des Publikums zu einem Mord geweckt. Schließlich erschreckt Marie beim Erscheinen Woyzecks und auch dessen Aufforderung „Marie, wir wolln gehen. S´ ist Zeit.“ macht dem Zuschauer klar, dass nun der Mord folgen muss.
Marie ist mit Woyzeck außerhalb der Stadt. Sie möchte zurück, weil sie sich unwohl fühlt, und sucht nach verschiedenen Begründungen (Es ist finster, sie muss das Abendessen vorbereiten), aber Woyzeck hält sie zurück und fragt danach, wie lange die beiden bereits zusammen sind und wie lange es noch dauern werde.
Dies bereitet Marie noch mehr Unbehagen, doch Woyzeck hält sie weiter zurück und macht Andeutungen, dass sie „vom Morgentau nicht frieren“ wird, weil sie heiß sei und heiße Lippen habe, dann zieht er das Messer und ersticht sie. Der Mord wird durch seine Ausrufe „Nimm das und das! Kannst du nicht sterben? So! So! Ha, sie zuckt noch, noch nicht, noch nicht? Immer noch? Bist du tot? Tot! Tot!“ als aggressiver Gewaltakt beschrieben. Dieser endet erst, als Woyzeck Passanten hört. Er läuft weg.
Diese Szene, der Höhepunkt des ganzen Dramas, zeigt einen ganz neuen Woyzeck: Dieser ist bestimmt und Marie sprachlich sogar überlegen, während sie ängstlich und unsicher wirkt. Es wird deutlich, dass Woyzeck seinen Mordplan konsequent verfolgt und diesen auch gegenüber Marie mehrfach andeutet, vielleicht, um ihr Angst zu machen.
Schon zu Beginn deutet er an, dass ihr Weg kurz sein werde („Du wirst dir die Füße nicht wundlaufen.“), nur, um kurz danach Marie zu fragen, ob sie noch wisse, wie lange die beiden bereits ein Paar seien und wie lange es noch dauern werde – wieder eine Vorausdeutung, die Marie als bedrohlich erkennt.
Woyzecks Ausführungen zur kalten Nacht und zu Maries Hitze sind sexuell aufgeladen, sodass sich sein Begehren ihr gegenüber deutlich zeigt („Heiß, heiß Hurenatem und doch möchte ich den Himmel geben, sie noch einmal zu küssen“), gleichzeitig aber auch offensichtlich ist, dass diese sexuelle Begierde ihn an ihren Fehltritt erinnert und seine Wut nur noch mehr anstachelt. Folglich werden seine Andeutungen dann auch konkreter: „und wenn man kalt ist, so friert man nicht mehr. Du wirst vom Morgentau nicht frieren.“ Hier wird klar: Er wird Marie jetzt umbringen, sie als Leiche wird die Kälte nicht mehr spüren.
Als Marie nun versucht, Woyzecks Gedanken zu verstehen, wiegelt dieser ab und schweigt. Dadurch zeigt sich seine emotionale Distanz zu Marie, eine Kommunikation, vielleicht eine Aussprache, ist für ihn nicht mehr erstrebenswert.
Der Mord selbst, in seiner Beschreibung einem Blutrausch gleichend und durch die Satzstruktur mit den vielen Ausrufen, Fragen und abgehackten Satzfetzen an seine erste Mordfantasie erinnernd, wird symbolisch durch den Mond eingeleitet, der „wie ein blutig Eisen“ aussieht, so zumindest beschreibt ihn Woyzeck. Er denkt also ganz offensichtlich an sein blutiges Messer.