Zu guter Letzt werden wir dir einige Interpretationsansätze vorstellen. Natürlich gibt es die verschiedensten Möglichkeiten „Woyzeck“ zu deuten und deinen eigenen Ideen sind keine Grenzen gesetzt – du musst sie nur gut begründen und wenn möglich mit Zitaten aus dem Stück belegen sowie den politisch-historisch-biographischen Kontext beachten. Meistens ist in den Aufgabenstellungen schon ein Thema oder Schwerpunkt vorgegeben. Sieh die Fragestellung als Hilfestellung, da sie dir eine Richtung weist, in die du mit deiner Deutung gehen kannst.
Woyzeck fehlen materieller Besitz, Vermögen und eine soziale Stellung. In der 5. Szene wird seine Auffassung von Tugend deutlich: Nur mit Geld kann man tugendhaft sein. Wenn man allerdings in Armut lebt, trete anstelle der Tugend die Natur, gemeint sind menschliche Grundbedürfnisse und Triebe, als Lebensmotiv (Materialismus). Auch dem Doktor gegenüber betont Woyzeck seine Natur, die ihn dazu verleitet habe, dass er „an die Wand gepisst [hat] wie ein Hund“. Das Thema der Wandlung vom Mensch zum Tier zieht sich durch das ganze Drama. Auf dem Jahrmarkt beispielsweise spricht der Ausrufer von der „viehischen Vernunft“ und vergleicht Affen mit Soldaten als unterste Stufe der Gesellschaft. Auch der Jude im Kramladen bezeichnet Woyzeck als „Hund“, als dieser bei ihm das Messer kauft.
Woyzeck wird immer animalischer, und seine Wahnvorstellungen nehmen im Verlauf der Handlung zu. Er lässt sich immer mehr von seiner „Natur“ leiten statt von Vernunft und Tugend. Die Familie war Woyzecks Lebensmittelpunkt und hier wurde er als Mensch akzeptiert – durch den Tambourmajor wurde ihm diese Menschlichkeit und sein Vertrauen zu Marie genommen.
Der Mord ist eine Tat der Moral- und Tugendlosigkeit. Woyzeck handelt stattdessen nach der Natur, die sein Handeln bestimmt. Ob er mit dem Mord seine Deformation zum Tier besiegelt oder aus Widerstand gegen seine animalische Seite handelt, ist Ansichtssache und für beide Thesen kann man Argumente finden.
Das Stück „Woyzeck“ orientiert sich an einem realen Kriminalfall, der viel Aufsehen in der Öffentlichkeit über Tatmotive und Zurechnungsfähigkeit erregt hat. Man kann also nach den Motiven suchen, die Büchners Woyzeck für den Mord an Marie hat.
Eifersucht: Marie wendet sich von Woyzeck ab und betrügt ihn. Der Grund für ihr Fremdgehen könnte einerseits die Stellung und das gute Aussehen des Tambourmajors sein, andererseits könnte es auch Woyzecks Schwäche und bedauernswerte labile Verfassung ausgelöst haben. Vermutlich spielt beides eine Rolle. Maries Verhältnis mit dem Tambourmajor ist rein sexuell und sie sucht Selbstbestätigung. Woyzeck ist seinem Rivalen körperlich, finanziell und sozial unterlegen und schafft es nicht, Marie zu halten, obwohl er sich für sie aufopfert. Daraus resultiert heftige Eifersucht und Woyzeck, der von seinem Umfeld schon vorher verspottet wird, erträgt diese Erniedrigung, verbunden mit dem Verlust seiner einzigen Bezugsperson, nicht. Da er keinen Weg sieht, Marie zurückzugewinnen, macht ihn seine Eifersucht zum Mörder.
Einsamkeit: Schon vor dem Mord ist Woyzeck sozial isoliert. Sogar sein Kamerad Andres scheint sich nicht ernsthaft für ihn zu interessieren und mit dem Erscheinen des Tambourmajors wird ihm auch noch seine Familie als sozialer Halt genommen. Der Mord an Marie und sein Kind, dass sich anschließend von ihm abwendet, besiegeln Woyzecks Einsamkeit und er bleibt allein zurück.
Wahnvorstellungen: Bereits in der ersten Szene wird Woyzeck psychisch labil dargestellt und Büchner beschreibt immer wieder seine wahnhaften Visionen. Woyzeck hört Stimmen, halluziniert und fühlt sich von höheren Mächten zu bestimmten Taten getrieben. Die Symptome sprechen für eine Schizophrenie, die sich immer weiter steigert. Man weiß nicht, inwieweit die psychischen Störungen mit der einseitigen Erbsen-Ernährung zu erklären sind, da im Stück nicht erzählt wird, wie Woyzeck vor Beginn des Experiments war. Verstärkt wurden die Wahnvorstellungen durch die vielen Erbsen auf jeden Fall und so stellt sich die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit von Woyzeck. Kann er überhaupt für den Mord verantwortlich gemacht werden? Oder ist die Schuld eigentlich beim Doktor zu suchen, der das Experiment nicht beendet hat, obwohl er von Woyzecks psychischem Verfall wusste?
Aggressivität: Vor dem Mord gibt es bereits eine Szene, in der Gewalt im Mittelpunkt steht: Der Kampf zwischen Woyzeck und dem Tambourmajor im Wirtshaus. Woyzeck verliert im Ringen gegen den deutlich überlegenen Rivalen, der ihn dafür auslacht. Durch den Mord wird Woyzeck zum Täter einer blutigen Gewalttat. Andererseits ist er auch in dieser Situation in einer Opferrolle, da er durch den Tod Maries alles verliert.
Wenn man die Personenkonstellation und den Sprachstil betrachtet, fällt schnell auf, dass der Kontrast zwischen den Gesellschaftsschichten ein wichtiges Element in „Woyzeck“ ist. Berücksichtigt man zusätzlich Büchners politische Ausrichtung und den zeitgeschichtlichen Hintergrund, wird der Kontrast zu einer Kritik, da Büchner nicht nur die gesellschaftlichen Umstände aufzeigt, sondern diese auch in einem sozialen bzw. politischen Drama statt in einer Komödie ansiedelt. Er wählte als Hauptfigur einen armen Soldaten, der von seinem Umfeld gedemütigt, ausgenutzt und ausgelacht wird. Woyzeck hat ein uneheliches Kind, zu wenig Geld, um seine Geliebte zu heiraten, und verliert letztendlich durch einen Nebenbuhler alles. Er muss an einem menschenverachtenden Experiment teilnehmen, um ein zusätzliches Einkommen zu haben, und wird vom Hauptmann, der sein Vorgesetzter ist, geringgeschätzt und gedemütigt. Woyzeck muss sich allen unterordnen und als er sich schließlich auch in der Beziehung zu Marie dem Tambourmajor unterwerfen soll, zieht er den Schlussstrich und tötet Marie.
Woyzeck kann dem gesellschaftlichen Druck und der Ausweglosigkeit seiner Isolation nicht mehr standhalten. Mit dem Mord befreit er sich von den Konventionen der Gesellschaft und den festen Strukturen, denen er sich unterordnen musste.
Büchner lässt seiner Hauptfigur keine andere Wahl, da der politische und soziale Zustand für die Unterschicht so ausweglos ist, dass man sich in sein Schicksal ergeben oder mit Gewalt ausbrechen muss. Wie an der Rolle „Woyzeck“ deutlich wird, kann keine der Handlungsoptionen Woyzeck zu einem zufriedenstellenden Leben führen. Er ist somit unfähig und machtlos, etwas an seiner Situation zu ändern.