[Anm.: Der Protagonist Nathanael richtet diesen Brief zwar an seinen Freund Lothar, adressiert ihn jedoch (wohl in Gedanken versunken) fälschlicherweise an dessen Schwester Clara, Nathanaels Verlobte.]
Zu Beginn dieses Briefs erzählt Nathanael von einer mehr als unliebsamen Begegnung, die ihm verdrängte Kindheitserinnerungen wieder lebhaft in Erinnerung ruft. Unlängst ist Nathanael nämlich auf einen Wetterglashändler getroffen, der sich Coppola nennt und äußerliche wie charakterliche (und auch namentliche) Ähnlichkeiten mit dem Advokaten Coppelius, einem Bekannten seiner Familie, aufweist.
Um den Ursprung seines zunächst übertrieben anmutenden Entsetzens zu erläutern, blickt Nathanael in seine Kindheit zurück:
Er schildert eine grausame Erfahrung mit dem sogenannten Sandmann, dessen Ankunft seine Eltern stets prophezeiten, wenn es für die Kinder Zeit war, zu Bett zu gehen. Auf Nathanaels Nachfrage, was es mit jenem Sandmann genau auf sich habe, gab ihm seine Mutter nur eine unbefriedigende Antwort. Das Dienstmädchen jedoch beschrieb den Sandmann als wahre Gruselgestalt, welche Kindern, die sich weigern schlafen zu gehen, Sand in die Augen werfe, „dass sie blutig zum Kopf herausspringen“, um jene Kinderaugen anschließend an seine Raubvögel zu verfüttern.
Von Unglauben und Neugier getrieben versteckte sich Nathanael eines abends im Zimmer seines Vaters, um die Ankunft des mysteriösen Sandmanns mitzuerleben. Tatsächlich betrat kurze Zeit später eine abscheuliche Gestalt jenes Arbeitszimmer, die Nathanael als den Advokaten Coppelius erkannte, um mit dem Vater auf einem versteckten Herd chemische Experimente durchzuführen, die auf den Jungen wie Teufelswerk wirkten.
Als Coppelius schließlich die Worte „Augen her“ zischte, stürzte Nathanael vor Schreck aus seinem Versteck, woraufhin der Advokat den Kopf des Jungen zu den lodernden Flammen zerrte und damit drohte, rote Körner aus der Feuersglut in dessen Augen zu streuen. Auf Bitten und Flehen der Eltern ließ Coppelius von seiner Idee ab, knackte aber grob an Nathanaels Gelenken, Händen und Füßen, sodass jener völlig verstört in einen „Todesschlaf“ fiel.
Wichtig: Diese Erinnerung Nathanaels ist nicht als reales Ereignis zu betrachten, sondern gilt als erstes Ereignis, bei dem Nathanaels Phantasie bzw. seine Wahrnehmung die Realität verzerrt. Da er zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind ist, wirkt dies auf den Leser natürlich nachvollziehbar, da Kinder traumatische Erlebnisse oft verarbeiten, indem sie diese in phantastische Geschichten einbetten. Betrachtet man jedoch rückblickend diese Wahnvorstellung, stellt sie den Anfang von Nathanaels R ealitätsverlust dar und kann als Auslöser für seine verzerrte Realitätswahrnehmung betrachtet werden.
Nach diesem Vorfall hieß es, Coppelius habe der Stadt den Rücken gekehrt, doch rund ein Jahr danach kam er abermals zu Besuch. Während die Mutter den traumatisierten Nathanael in dessen Zimmer führte, ging der Vater mit Coppelius in sein Arbeitszimmer. Gegen Mitternacht ertönte ein lauter Knall, welcher Nathanael dazu veranlasste, sofort zu seinem Vater zu rennen, den er „mit schwarz verbranntem [,] grässlich verzerrtem Gesicht“ nach der Explosion tot vorfand. Von Coppelius hingegen fehlte jede Spur.
Auch diese Textstelle ist bedeutsam, erklärt sie doch, dass Coppelius für Nathanael nicht nur die Rolle des Sandmanns eingenommen hat, sondern auch die Rolle des Mörders seines Vaters.
Am Ende seines Briefes betont Nathanael nun nochmals, dass er in dem ominösen Wetterglashändler Coppola den Mörder seines Vaters wiedererkannt zu haben glaubt, dessen Tod er zu rächen schwört.
Hier findet sich bei Coppelius und Coppola das typische Motiv des Doppelgängers, das in der dunklen Romantik große Bedeutung hat.
Clara bedauert die Leiden ihres Verlobten zutiefst, ist allerdings ihrerseits der Auffassung, dass bei jenen tragischen Geschehnissen keinesfalls derart teuflische Mächte am Werk gewesen seien. Vielmehr habe sich erst in Nathanaels kindlicher Vorstellungskraft „der schreckliche Sandmann aus dem Ammenmärchen mit dem alten Coppelius“ verbunden. Die Angst fuße demnach auf Nathanaels innerer Unruhe, nicht etwa auf wirklicher Bedrohung von außen.
„Sei heiter“ ist folglich Claras Rat an ihren Verlobten, den sie bald zu besuchen beabsichtigt, um ihn gleichsam als „Schutzgeist“ dabei zu unterstützen, verängstigenden Gedanken „mit lautem Lachen fortzubannen“.
In diesem Brief wird bereits die gegensätzliche Anlage Nathanaels und Claras deutlich. Während dieser an das Phantastische, den Schrecken glaubt und Coppelius alias Coppola alias den Sandmann zu einer Person erklärt und damit daran glaubt, dass Schreckgespenster in der wirklichen Welt existieren, ist Clara rational, sucht nach logischen Erklärungen und hat nichts für die „Spinnereien“ Nathanaels übrig. Deshalb versucht sie mit Logik zu erklären, was Nathanael mit Gefühl zu erfassen glaubt.
Damit erklärt Nathanael Coppelius/den Sandmann/Coppola zu einer äußeren Macht – einer real existierenden Bedrohung. Clara hingegen charakterisiert diesen als innere Macht, quasi als selbst erdachtes Schreckenswesen, man könnte auch sagen, sie erkennt, dass er an einem Trauma leidet. Clara und Nathanael werden als Gegenpole eingeführt – er, der Künstler und Romantiker, sie, die rational Aufgeklärte und Vertreterin des Philistertums.
Problematisch ist, dass der Erzähler unzuverlässig ist und durch seine Mehrdeutigkeit niemals klarstellt, welche Sichtweise denn nun die richtige ist. Dies ist beabsichtigt und typisch für romantische Texte, soll doch der Leser selbst sinnstiftend tätig sein.
Hier weist Nathanael darauf hin, dass es sich bei Coppola wohl doch nicht um Coppelius handeln könne, da der obskure Wetterglashändler – neben seiner italienischen Aussprache (Coppelius war Deutscher) – außerdem schon seit vielen Jahren ein Bekannter des Physik-Professors Spalanzani sei, bei dem Nathanael inzwischen Vorlesungen besucht. Dennoch fühlt Nathanael sich noch nicht gänzlich beruhigt und auch von Claras eher rationaler Herangehensweise unverstanden.
Dieser rationale Moment Nathanaels wirkt zunächst auf den Leser, als habe er seine Wahnvorstellungen überwunden. Wie sich schon bald bei der Begegnung mit Olimpia zeigen wird, bleibt es jedoch nicht dabei, dass Nathanaels Wirklichkeit mit der der rational denkenden Menschen übereinstimmt.
Weiterhin berichtet er Lothar, dass er durch eine sonst mit Gardinen verhangene Glastür eine Frau „im reinsten Ebenmaß“ starr an einem Tischchen sitzen sah.
Später habe Nathanael erfahren, dass es sich bei der irgendwie unheimlichen Frau um Olimpia, Spalanzanis Tochter, handle.