Die Tragödie „Faust”, geschrieben von Johann Wolfgang von Goethe und veröffentlicht im Jahr 1808, ist auch heutzutage noch als das Werk eines deutschen Schriftstellers schlechthin anzusehen. Es gibt zwei Teile des Dramas („Faust I“ bzw. „Faust. Der Tragödie erster Teil“ und „Faust II“ bzw. „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“), wobei im Unterricht, besonders im Grundkurs Deutsch, zumeist nur der erste Teil behandelt wird.
Eine Einordnung in eine Epoche ist bei diesem Meisterwerk nicht eindeutig möglich, auch wenn viele es als „unklassisches Werk der Klassik“ bezeichnen. Dies liegt unter anderem an der langen Entstehungsperiode, aber auch an Goethe als Person.
Fast 60 Jahre zieht sich die Entstehung der Dichtung hin – wohlgemerkt für Faust I und Faust II. Bereits als junger Mann und damals noch Vertreter des Sturm und Drang beginnt Goethe seine Arbeit an dem Werk. Die Fertigstellung erfolgte erst kurz vor seinem Tod – hier muss man fast von göttlicher Fügung (oder doch einem Teufelspakt) sprechen, als hätte Goethes Leben erst enden können, als er die „Summa summarum seines Lebens“ – wie Goethe selbst die Faustdichtung bezeichnet – vollendet hat.
So ist es nicht verwunderlich, dass sich Merkmale der verschiedenen Epochen – Sturm und Drang, Aufklärung, Weimarer Klassik und nicht zuletzt einige Elemente der Romantik – finden lassen, in gewisser Weise ist der Fauststoff ein Ausdruck von Goethes Lebensgefühl, was sich sowohl in der Rolle des Faust und des Mephistopheles, aber auch in der „Zueignung“ und dem „Vorspiel auf dem Theater“ erkennen lässt, um hier nur einige wenige Stellen anzuführen.
Wie aber entstand denn eigentlich die Idee für „Faust“? Und warum dauerte die Vollendung so lange? Auf diese beiden Fragen wollen wir hier kurz in der Stoff- und Entstehungsgeschichte eingehen.
Zunächst einmal: Nein, Goethe hat Faust nicht erfunden. Vielmehr bearbeitet er einen schon zu seiner Zeit Jahrhunderte alten Stoff.
Georg (oder auch Johann) Faust war eine reale Person, die vermutlich um 1480 in Knittlingen (heutiges Baden-Württemberg) geboren und 1540 im Breisgau gestorben ist. Das besondere an diesem Mann war, dass er wohl Magie, Medizin und Alchemie studiert hat und auch als Magier sowie Wahrsager durch die Lande gezogen ist. Eine solche Person löste in der Umbruchzeit zwischen Mittelalter und Neuzeit, in der das religiöse Vertrauen in Sühne für Sünde und allgemein auf Gott durch neue Entdeckungen in den Naturwissenschaften und einer Hinwendung zur Reformation erschüttert wurden, natürlich auf zweierlei Weise eine große Faszination aus: Faust galt als Teufelsbündner, ein Mann, der seine Seele verkauft, um die Grenzen der Menschen zu überschreiten und durch Magie zu Höherem, dem Göttlichen Vorbehaltenen zu streben. Hier vereinen sich Schrecken und Anziehungskraft dieses Grenzüberschreiters und Normbrechers. Kein Wunder also, dass schon bald literarische Bearbeitungen seiner Geschichten entstanden, wobei die historische Person zu einer phantastischen Figur erweitert und dessen Geschichten um immer neue Erzählungen ergänzt wurden. Die erste gedruckte Bearbeitung des Faust-Stoffes erschien 1587 (von Johann Spies) als „Historia von D. Johann Fausten“, einem Volksbuch, in dem die Geschichte des Doktors als moralische Warnung zu lesen ist: Ein Mensch, der nach höherer Erkenntnis strebt, ist leichte Beute für den Teufel und wird letztlich zu Grunde gehen.
Funfakt: Das Erscheinen Mephistos als Pudel könnte auf eine Beschreibung Philipp Melanchthons zurückgehen, nach der der historische Faust immer in Begleitung eines schwarzen Hundes aufgetreten sei, in dem der Teufel steckte.
Eine erste positive Umwertung erfährt die Figur des Faust in der dramatischen Bearbeitung durch den Engländer Christopher Marlowe, im Jahr 1604 gedruckt: Bei diesem verkörpert Faust das Selbstbewusstsein der Neuzeit und wird durch sein Streben nach unbeschränktem Weltgenuss zu einer tragischen Figur, die sich zu ungeahnter Größe aufschwingt und schließlich durch ihre Hybris zu Fall gebracht wird. Interessante Parallelen zu Goethes Faust gibt es schon hier:
Auch in Marlowes Faust streiten immer die ambivalenten Seiten (Gut und Böse, Reue und Sünde, titanisches Streben nach Erkenntnis und düstere Melancholie) miteinander.
Es gibt bereits einen Eingangsmonolog, ähnlich dem Selbstgespräch im Studierzimmer, in dem Faust über die mangelnde Befriedigung durch die Universitätslehren schimpft und zur Magie greift. Aus dieser Bearbeitung Marlowes entstanden komödiantische Aufführungen der englischen Wanderbühnen, die mit der Zeit auch nach Deutschland Einzug hielten. Hierbei wurde der Stoff in Einzelszenen zerrissen und sank so zu Zauber- und Spektakelstücken herab. Zudem gab es Puppenspiele für Kinder. Es ist nachweisbar, dass Goethe 1768 in Frankfurt und 1770 in Straßburg solche Wanderbühnenaufführungen gesehen hat. Sein erster Kontakt geht jedoch vermutlich auf eines der oben genannten Puppenspiele für Kinder zurück.
Fun Fact: Im Film „Goethe!” mit Moritz Bleibtreu wird auf einer Jahrmarktszene, auf der Goethe sturzbetrunken feiert, „Faust“ als Puppenspiel aufgeführt – da der Goethe im Film zu dieser Zeit gerade in seinen Zwanzigern war, wird hier auf seine ersten Kontakte mit dem Stoff angespielt.
Eine weitere Aufwertung erfuhr Faust in der Zeit der Aufklärung durch niemand Geringeres als Lessing. Bei diesem wird die Figur absolut umgewertet und von einem Sünder, der sich über die Grenzen der Menschen hinweg aufschwingen möchte, zu einem nach Weisheit strebenden Gottesliebling. Diese Schätzung Gottes greift Goethe auf, indem er bei der Wette zwischen Gott und Mephisto Faust als Parallelfigur zu Hiob gestaltet. Ganz im Sinne der Aufklärung wird Faust bei Lessing nicht mehr ob seines Wissensdrangs verdammt, sondern das Streben nach Wissen wird als edelster Trieb dargestellt. Die Gefahr besteht hier nicht mehr in dem Streben nach Wahrheit, sondern darin, sich dabei zu sehr zu verrennen. In seiner Streitschrift „Eine Duplik“ (1778) fasst Lessing seine Sicht auf dieses Streben sehr passend zusammen: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.“ Der Wissenstrieb selbst ist es also, was der Mensch als edelsten Trieb von Gott gegeben bekommen hat. Goethe könnte durchaus Zugang zu den Entwürfen und zur „Duplik“ Lessings gehabt haben.
Dieser Faust der Aufklärung übt natürlich nun auch auf Goethe und die anderen Stürmer und Dränger eine große Faszination aus. Wie Prometheus wird auch er zu einer Identifikationsfigur, dessen Kühnheit und Hingabe, dessen Auflehnung gegen enge Regeln und Überkommenes ganz im Sinne des Geniekultes zu verstehen ist.
So weit zu den literarischen Vorlagen Goethes – warum aber ließ ihn nun dieser Stoff nicht mehr los? Welchen Anlass hatte der gerade Anfang zwanzig Jährige, sich mit dem Fauststoff zu beschäftigen? Und was hielt ihn so lange gefesselt, dass er allein mit „Faust I“ fast 36 Jahre verbracht hat?
Grundsätzlich lässt sich Goethes Arbeit an „Faust I“ in drei größere Schaffensphasen einteilen. Allerdings sollte man keineswegs davon ausgehen, dass es sich jedes Mal um eine komplett neue Fassung handelt. Vielmehr sind in der letztlich im Jahr 1808 als „Faust I“ veröffentlichten Fassung verschiedene Entwicklungsstufen gleichzeitig präsent, sodass es nicht verwundert, dass das Werk sowohl Elemente des Sturm und Drang und der Aufklärung als auch der Weimarer Klassik und nicht zuletzt romantische Anklänge aufweist.
Anlass für die erste Phase (1772-1775) war vermutlich ein biographisches Erlebnis: Im Januar 1772 wurde in Frankfurt die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brand hingerichtet. Ihre Verteidigung bestand darin, dass der Teufel sie zu der Tat angestiftet habe. Goethe verfolgte diesen Prozess aufmerksam, er studierte die Gerichtsakten, besuchte die Hinrichtung und tauschte sich mit einigen an dem Prozess beteiligten Personen aus. Es ist sicher, dass Susanna Brand als Vorbild für Gretchen und die Gretchen-Tragödie diente. Wie bereits erwähnt, erfreute sich der Fauststoff im Sturm und Drang großer Beliebtheit. Goethe sah hier nun die Gelegenheit, seine eigenen Erfahrungen mit dem bekannten Stoff zu verknüpfen und schuf so den „Urfaust“, ein erster Entwurf mit Prosaszenen, in dem bereits der Kern der Gelehrten- und der Gretchentragödie angelegt ist.
Die zweite Schaffensperiode fällt mit Goethes Italienreise zusammen, sodass es nicht verwundert, dass „Faust. Ein Fragment“ (1790) deutliche Spuren der Klassik aufweist. Er arbeitete seinen Text in Versform um und ergänzte einige Szenen. Besonders auffällig ist aber, dass er das Ende der Gretchentragödie aus dem Werk streicht – vermutlich, weil es ihm zu diesem Zeitpunkt nicht möglich scheint, Gretchens Ende mit den klassischen Zielen der ästhetischen Erziehung in Einklang zu bringen.
Ab 1797 beginnt nun die letzte Schaffensphase. In dieser Zeit ist die Freundschaft zwischen Schiller und Goethe besonders intensiv, und so verdanken wir es nicht zuletzt dem Drängen Schillers, dass „Faust I“ fertiggestellt und veröffentlicht wurde. Bei dieser letzten Überarbeitung schafft Goethe aus vielen Einzelteilen und unzusammenhängenden Szenen ein zusammenhängendes Werk. Außerdem stellt er der Binnenhandlung die drei Prologe (Zueignung, Vorspiel auf dem Theater, Prolog im Himmel) voran und gibt dieser somit drei Rahmen: Die Selbstreflexion als Dichter in der „Zueignung“, die poetologische Reflexion über die Funktion/das Wesen von Dichtung im „Vorspiel auf dem Theater“ und die himmlische Rahmenhandlung im „Prolog im Himmel“, welche die Rolle Mephistos und Fausts in der von Gott gelenkten Welt erklärt.
Letztlich kann man „Faust“ – beide Teile! – in gewisser Weise als Lebenswerk, aber auch als Lebensthema und Spiegel von Goethes dichterischem Schaffen betrachten, Heinrich Faust wird zu einer Projektionsfläche Goethes, eine literarische Bearbeitung seiner selbst – dazu mehr im Abschnitt „Interpretationsansätze“.
Näheres zu den historischen und philosophischen Hintergründen findest du in den Kapiteln zur „Epochenübersicht“. Was gerade den ersten Teil von „Faust” zu etwas Besonderem macht, ist das Ineinandergreifen zweier Tragödien, die zu einem großen Drama zusammengefügt wurden: Die Gelehrtentragödie und die Gretchen-Tragödie.