Die beiden ersten Szenen des Stücks haben keine funktionale Rolle für die eigentliche Rahmen- und Binnenhandlung. Allerdings bieten sie einen wichtigen Einblick in die Denkweise Goethes. Er reflektiert hier sowohl über seine Rolle als Dichter, über seine eigene Entwicklung und seine Werke als auch über die Funktion und das Wesen von Dichtung. Ihnen folgt allerdings eine wichtige Schlüsselszene, die ebenfalls noch vor der eigentlichen Dramenhandlung angesiedelt ist: Die Abmachung zwischen dem Teufel Mephisto und dem Herrn, die den weiteren Verlauf maßgeblich prägt und als himmlische Rahmenhandlung für die „weltliche“ Binnenhandlung zu verstehen ist.
Das Drama wird mit einem Gedicht eröffnet. Goethe erwähnt hier alte Zeiten, berichtet vom Schreibprozess und reflektiert seinen eigenen Schaffensprozess und dessen Wandel im Laufe des Lebens. Dieser erste Prolog entstand zu Beginn der letzten Schaffensphase (vermutlich 1797) und stellt, um die oben genannte Zusammenfassung auf der Metaebene zu analysieren, eine Auseinandersetzung Goethes mit dem Entstehungsprozess seiner Faustdichtung und damit verbunden auch mit seiner Rolle als Dichter dar.
Gleich in den ersten Versen wird deutlich, dass hier ein lyrisches Ich, ein Dichter, der in diesem Fall mit dem Autor Goethe gleichgesetzt werden kann, von Figuren heimgesucht wird, die ihn schon vor langer Zeit gefesselt und ihn seitdem nicht losgelassen haben. Gleichzeitig wird klar: Diese „schwankenden Gestalten“ sind noch unfertig, sie bedürfen der dichterischen Auseinandersetzung, einer endgültigen Ausgestaltung. Der Dichter selbst ist zwar noch unsicher, ob es ihm diesmal gelingen wird, seine Dichtung zu vollenden, doch ihm bleibt keine andere Wahl, als es zu versuchen, denn sein „Busen fühlt sich jugendlich erschüttert // vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.“ Diese Erinnerung an die erste Schaffensphase und der unbändige Drang, dieses Schaffen weiterzuführen, wird auch in den folgenden Strophen beschrieben, verbinden sich in der Reflexion des Dichters aber auch mit der Wehmut, dass seine ursprünglichen Zuhörer, ihm bekannte Freunde, nicht mehr existent oder zumindest präsent sind und daher sein Lied „ertönt der unbekannten Menge“, also einem Goethe nicht bekannten Publikum. Dies mindert jedoch nicht Goethes Schaffensdrang, nein, „Ihr Beifall selbst macht [seinem] Herzen bang“. Diese Erinnerungen erschüttern den Dichter und verleihen ihm nun den Antrieb, sein Werk zu vollenden.
Neben einer Begründung für die Fortsetzung des Werkes (der Stoff lässt Goethe einfach nicht los) liefert dieses erste Präludium auch einen Eindruck von Goethes Vorstellung des poetologischen Schreibprozesses und deren Wandlung: Während er zur Zeit des Sturm und Drang, wie auch die anderen Vertreter, von einem genialen Schöpfungsakt ausging, was bedeutet, dass die Kunstwerke aus dem Dichter selbst entstehen und „nur so aus ihm heraussprudeln“, um es umgangssprachlich auszudrücken, wird diesem Geniegedanken hier eine Absage erteilt. Vielmehr wirkt der Dichter wie ein passiver Empfänger äußerer Inspiration, die dann durch Arbeit, intensive Auseinandersetzung und Bemühen zu einem Werk werden kann. Damit ist ebenfalls dem perfektionistischen Formwillen der Klassik eine Absage erteilt: Den Dichter „ergreift ein längst entwöhntes Sehnen“, sein strenges Herz wird besänftigt und sein Arbeitsprozess erneut angestoßen. Daraus ergibt sich aber auch – deshalb kein strenger Formwille – dass dem Leser bzw. dem Zuschauer der lange Prozess und die damit immer wieder unterbrochenen Schaffensperioden in Erinnerung gerufen werden, wodurch klar wird, dass dieses Werk „nicht aus einem Guss“ ist, dass es eine große innere Komplexität, ja, an mancher Stelle vielleicht sogar Widersprüche aufweist.
Schließlich wird die persönliche Bedeutung der Faustdichtung hier nahezu greifbar: Diese Tragödie ist Goethes Lebenswerk, ein Spiegel seiner eigenen literarischen Entwicklung: Wir haben hier den biographischen Schlüssel zum Verständnis des Dramas „Faust“.
Interessant ist, dass diese „Zueignung“ einen literarisch gebildeten Leser bzw. Zuschauer durchaus an die Tradition antiker Elegiker oder auch Geschichtsschreiber erinnert: Auch diese setzten sich im ersten carmen oder in einer Art Vorrede ihrer historiae mit dem Schaffungsprozess ihrer Werke auseinander und baten den Leser um Nachsicht. Ovid beschreibt z.B. in „Amores“, wie der kleine Gott Amor ihn nicht loslässt, ihn nahezu zwingt sich der Liebesdichtung hinzugeben, obwohl er doch viel lieber Epen schreiben würde.
Ein Theaterdirektor, ein Dichter und eine lustige Person (ein Schauspieler in Komödien) diskutieren darüber, was ein gelungenes Theaterstück ausmacht, wobei der Direktor den unternehmerischen, der Dichter den künstlerischen und die lustige Person den unterhaltenden Aspekt in den Vordergrund rückt.
Während also das erste Präludium eine Reflexion Goethes über seine eigene schriftstellerische Tätigkeit darstellt, wird in diesem zweiten Prolog über das Wesen und die Funktion der Gattung „Drama“ reflektiert und dabei die unterschiedlichen Interessen und Einstellungen der wesentlich an einem Dichtungsprozess beteiligen Personen vorgestellt. Der Autor als Schöpfer des Werks (vertreten durch den Dichter, der die Würde des Kunstwerks verteidigt und in den Mittelpunkt der Wertbemessung stellt) strebt danach, den Einklang der Welt und des Lebens darzustellen und die Wahrheit zu verkünden.
Hier findet sich eine interessante Mischung der beiden Epochen, denen Goethe zugeordnet wird: Einerseits verkörpert die Erinnerung an die Jugendzeit, die der Dichter anführt, andererseits die Zeit des Sturm und Drang, in der die Subjektivität und der Schöpferwille im Zentrum künstlerischer Betrachtung standen. Der Anspruch an Kunst, die Wahrheit durch das Finden von Einklang zu verkünden, erinnert sehr an die Aufgabe der Kunst in der Weimarer Klassik.
Der Intendant bzw. Theaterdirektor, der sowohl den Gewinn durch die Inszenierung als Ziel von Dichtung anführt wie auch das delectare, also den Wunsch des Publikums nach Unterhaltung und Ablenkung sowie Gelegenheit zur gesellschaftlichen Repräsentation, vertritt die Gegenposition des Dichters. Daraus ergibt sich, dass ein Theaterstück, aus diesem Blickwinkel betrachtet, nicht unbedingt künstlerisch ausgefeilt sein sollte, sondern vor allem den Geschmack der breiten Masse treffen müsse. Dennoch fordert er bereits, dass ein Drama den ganzen Kreis der Schöpfung beschreiten solle, „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“.
Genau das wird das folgende Drama machen: Die Handlung beginnt im Himmel (Prolog), führt Faust durch seine kleine Welt hinaus in die weite Welt, während am Ende die Bedrohung durch die Hölle sowohl auf Gretchen (Faust I) wie auch auf Faust (Faust II) wartet – auch wenn sie schließlich beide gerettet und in den Himmel aufgenommen werden.
Schließlich diskutiert eine lustige Person, Repräsentant der Schauspieler, mit und vertritt dabei eine vermittelnde Position: Er führt an, dass der Applaus der breiten Masse keine Minderung der schauspielerischen Leistung bedeute, sondern es vielmehr gut sei, wenn er durch seine Kunst eine große Menge erreichen und bei dieser damit etwas bewegen könne. Er schlägt einen Kompromiss vor, gerichtet an den Dichter: Ein Theaterstück solle Themen von allgemeingültigem Interesse behandeln, sodass sich jeder Zuschauer identifizieren und dadurch etwas für sich lernen könne. Außerdem solle ein Werk nie als „vollendet“ betrachtet werden, denn nur fortwährendes Streben mache glücklich. Hier finden sich wieder Anzüge eines klassischen Anspruchs an Kunst (allgemeingültige Themen, um die Menschen zu erziehen), gleichsam aber auch ein Hinweis auf Faust, dessen ununterbrochenes Streben den Sinn seines Lebens ausmacht.
In diesem Prolog wird deutlich, wie sehr Goethe auch hier seine eigenen Erfahrungen eingeschrieben hat. Er selbst kennt sowohl die Rolle des Dichters, war aber gleichsam Theaterdirektor in Weimar, Laienschauspieler am Liebhabertheater am Weimarer Hof und natürlich in unzähligen Situationen auch Zuschauer und damit Theaterbesucher. So ist es nicht verwunderlich, dass er selbst eine dialektische Auseinandersetzung präsentiert, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass alle drei Ansichten nebeneinander existieren und auch alle drei das Wesen der Dichtung ausmachen. Sein innerer Streit – alle drei bzw. vier Positionen – kann durch die dichterische Aufspaltung in verschiedene Figuren dargestellt werden.
Wenn man nun den Zusammenhang zwischen diesem Vorspiel und der eigentlichen Faust-Dichtung sucht, so wird man schnell fündig: „Faust” wird als das Universaldrama, das alle Facetten vereint, angekündigt. Es hat die Würde, die der Dichter verlangt, und thematisiert allgemeingültige Fragen: Die Frage nach dem Sinn des Lebens bzw. der Schöpfung, nach der Bestimmung des Menschen in der Schöpfung und nach den Höhen und Tiefen der Existenz sowie nach dem Stellenwert des Bösen. Das dargestellte Leben Fausts und dessen sinnliches, vollkommenes Wahrnehmen wird nicht in einem klaren Gedankengang präsentiert, sondern turbulent, mit Effekten und magischen Elementen versehen, es fesselt und beeindruckt und wird so zu einem Kunstwerk für alle Beteiligten. In diesem Präludium steckt der kunsttheoretische Schlüssel zum Verständnis des Dramas „Faust“.
Gleich am Anfang der eigentlichen Handlung wird ein ganz wichtiger Grundstein für den gesamten folgenden Verlauf gelegt, nämlich die Wette zwischen dem Herrn und Mephistopheles, also zwischen Gott und dem Teufel. Gleich zu Beginn preisen die drei Erzengel (Gabriel, Michael und Raphael) in Anwesenheit Gottes und seiner Engel die Schöpfung wegen ihrer Harmonie zwischen Welt und Kosmos.
Sprachlich spiegelt sich diese Harmonie der göttlichen Schöpfung in den gleichmäßigen vierhebigen Jamben wider, ein Metrum, das an Kirchenlieder aus Goethes Zeit erinnert.
Dieser Lobpreis wird von Mephisto, der sich einerseits zwar als Teil dieser Schöpfung und des göttlichen Hofstaates sieht, andererseits als vehementer Kritiker der als perfekt dargestellten Schöpfung im Sinne des Deismus betrachtet, unterbrochen.
Deismus: Die Vorstellung, dass Gott Himmel und Erde so vollkommen erschaffen hat, dass göttliches Eingreifen ins irdische Geschehen seit Anbeginn der Zeit nicht mehr nötig ist, sondern die innere Harmonie der Welt selbst den Einklang immer wieder herstellt.
Mephisto beginnt damit, Gott für sein fehlendes Interesse an seiner Schöpfung und seine mangelnde kritische Distanz zu dieser (ausgedrückt durch den Vorwurf des fehlenden Humors Gottes) zu tadeln. Für ihn sind die Menschen der Beweis, dass zumindest die Erde nicht vollkommen ist: „Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.“ Deren Imperfektion bestünde darin, dass der Mensch sich selbst für einen kleinen Gott halte, weil Gott ihm den Verstand gegeben habe, den er aber nur nutze, um sich animalisch aufzuführen. Grund dafür sei, dass der Mensch mit der Fähigkeit des Verstandes überfordert sei – wie die Zikade, die immer wieder versucht, sich in die Lüfte zu erheben, aber am Boden bleiben muss, will auch der Mensch Höheres erstreben, ist aber gleichsam dauerhaft an seine Materie und seine Triebe gebunden.
Gott ist allerdings von Mephistos ständiger Anklage und dessen dauernder Unzufriedenheit genervt und führt als Gegenbeweis zu Mephistos These den Menschen Heinrich Faust an, der auf dem richtigen Weg sei seine höhere Bestimmung (und damit zu Gott) zu finden, indem er die Gefahren des Irrtums erkenne und nicht auf diese hereinfiele.
Gott kennt das Streben Fausts nach Entgrenzung, sieht in diesem aber die wahre Bestimmung des Menschen. Wichtig ist: Wahrhaft perfekt ist der Mensch, wenn er das Streben nach höherer Erkenntnis nicht aufgibt, auch wenn er erkennt, dass er das Ziel nicht auf der Erde erreichen kann.
Auch Mephisto kennt Faust und dessen ständigen Drang, alle Grenzen des Menschen zu überschreiten. Außerdem ist ihm durchaus bewusst, dass die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens Faust in eine Sinnkrise gestürzt hat.
Mephisto hält Faust eben nicht für den Prototypen des perfekten Menschen nach Gottes Vorstellung, sondern er ist überzeugt, dass auch er in seiner Materie gefangen bleibt. Wenn also Faust erkennt, dass alles Streben nach höherer Erkenntnis sinnlos ist und dass er als Mensch seinen existenziellen Bedürfnissen auf der Erde folgen sollte, so könnte er beweisen, dass Gottes Schöpfung Fehler hat. Faust ist also aus des Teufels Sicht ein Prototyp des mephistophelischen Menschenbildes.
Mephisto wettet, dass er es schafft, Faust vom rechten Weg abzubringen. Der Herr hält dagegen, weil er davon überzeugt ist, dass sich jeder Mensch selbst in der dunkelsten Stunde „des rechten Weges wohl bewusst“ (V. 329) ist.
Interessant ist, dass es dem Teufel bei Goethe weniger um die Seele Fausts zu gehen scheint als vielmehr um den Sieg über Gott, eine Art Revenche dafür, dass er aus dem Himmel verband wurde, weil er als Engel wie Gott sein wollte.
Der Mensch wird schon hier im Prolog im Spannungsfeld zwischen Gott und Teufel präsentiert: Faust als Vertreter der Menschheit und Prüfstein der Weltordnung wird Gegenstand einer Scheinwette, in der darüber entschieden werden soll, ob die Menschen eher der göttlichen Schöpfung oder dem mephistophelischen Menschenbild entsprechen. Damit wird die Frage eröffnet: Wie ist der Zusammenhang zwischen Mensch und Schöpfung?
Diese Wette erinnert sehr an das Buch Hiob in der Bibel.
Wichtig ist, dass Gott sich NICHT auf die Wette einlässt, jedoch zustimmt, bei des Teufels Werk nicht einzugreifen. Vielmehr sieht Gott im Versuchen des Teufels eher die Möglichkeit, dass Fausts Streben weiter angestachelt wird. Faust wird weiter tätig sein, er wird nicht erschlaffen (dieses Streben gehört zu dem, was den göttlichen Teil des Menschen ausmacht, die Trägheit ist ein Aspekt des mephistophelischen Teils. Hierzu Genaueres in den Interpretationsansätzen und bei Faust zur zwei Seelen-Theorie). Dies ist sehr wichtig für das Verständnis des Dramas: Mephisto, also der Teufel, ist kein Gegenspieler Gottes, vielmehr ist er ein Teil der Schöpfung, er ist ein Teil des Göttlichen und gestaltet somit die göttliche Welt mit. Es kann nichts Gutes ohne Böses geben, nicht Moralisches ohne Unmoralisches usw. – damit wird Goethes Polaritätsprinzip hier schon als Kern des Dramas deutlich: Mephisto, als Teil und in gewisser Weise Werkzeug Gottes, kann nicht über seinen Herrn triumphieren. Damit ist auch klar: Faust, egal wie unmoralisch er an vielen Stellen handelt, egal wie sehr ihn sinnliche Triebe leiten, kann nicht gänzlich scheitern, solange die zweite Seite seiner Polarität, der zweite Teil seiner zwei Seelen, noch existiert.