Fausts unbefriedigendes Dasein als Gelehrter verleitet ihn zu drastischen Maßnahmen und macht ihn für teuflische Mächte empfänglich. Die Gelehrtentragödie beginnt bei den meisten Strukturdarstellungen mit der Nacht und endet – zumindest für den ersten Teil – mit der Hexenküche. Hierbei ist der Anfang unstrittig, das Ende jedoch ist diskutabel. Die eigentliche Absage an das Gelehrtendasein und das erste Scheitern Fausts, nämlich das Scheitern des Strebens nach Erkenntnis, ist ja quasi schon nach der zweiten Studierzimmer-Szene abgeschlossen und die Weltfahrt beginnt. Diese stellt eigentlich den Beginn des zweiten tragischen Moments Fausts dar: Das Scheitern des Wunsches nach Lebenserfahrung. Dieses wiederum umfasst doch eigentlich auch die Erfahrungen in der Gretchentragödie und setzt sich im zweiten Teil fort. Schließlich scheitert Faust ja auch in seinem absoluten Streben nach Gottesgleichheit, seinem Titanismus (Titanismus ist das ständiges Auflehnen und Ankämpfen eines Einzelnen gegen unüberwindbare Grenzen. Der Begriff geht auf den Mythos der Titanen zurück, ein Göttergeschlecht, das sich gegen die herrschenden olympischen Götter auflehnte. Einer der bekanntesten Titanen ist Prometheus). Dieses Scheitern durchzieht im Prinzip alle Teile.
So ist es logisch, dass die Einteilung in Gelehrten- und Gretchentragödie eher eine Hilfestellung zur Strukturierung bietet als eine wirklich klare Trennung aufzeigt. Man muss immer bedenken: Die Geschehnisse in der Gretchentragödie sind eine Folge der tragischen Momente in der Gelehrtentragödie. Die Gretchentragödie ist aber auch ein Teil des Scheiterns Fausts (dazu mehr im Kapitel zur Struktur), ein besonderes Zwischenspiel, bevor es im zweiten Teil mit der eigentlichen Weltfahrt als Teil der tragischen Erfahrungen Fausts weitergeht.
Schon im Prolog deutet Mephisto an, dass Faust mit nichts zufrieden ist. Diese Einschätzung bestätigt sich gleich zu Beginn der Gelehrtentragödie: Faust steckt in einer regelrechten Existenzkrise, heute würde man von einer Sinnkrise mitsamt depressiver Verstimmung sprechen: Sein bisheriges Leben erscheint ihm sinnlos. Er hat bereits alle zu seiner Zeit existenten Wissenschaften studiert und sich zum Doktor hochgearbeitet, jedoch ist sein Wissensdrang nach wie vor nicht gestillt, ja, er erkennt, dass „wir nichts wissen können!“ (V. 364). Das allein nicht genug, hat er, so seine Sicht, nichts erreicht. Er hat keinen nennenswerten materiellen Besitz und genießt kein besonderes gesellschaftliches Ansehen.
Diese Erkenntnis- und Existenzkrise ist der erste tragische Teil von Fausts Leben: Er erkennt, dass nicht seine individuellen Grenzen ihn von wahrer Erkenntnis abhalten, sondern es sind die Grenzen der Menschheit. Damit wird klar, was Fausts eigentliches Problem ist. Es geht ihm nicht um Wissen, nicht um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern er sucht, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (V. 382), den Sinn des Lebens und die Wirkung und Funktion hinter den Phänomenen der Welt. Damit ist es vielmehr religiöse Erleuchtung, das Wissen, das nur Gott allein haben kann, welches er erlangen möchte.
Durch diese Deutung erklärt sich auch, warum gerade das Studium der Theologie besonders bedauert wird: Nicht einmal dieses kann Faust seiner Erkenntnis näher bringen.
In dieser hier präsentierten Figur des Faust wird gleichsam auch wieder Goethe deutlich: Faust fühlt sich, wie auch Goethe, von der traditionellen christlichen Lehre enttäuscht, Faust geht noch weiter und wendet sich von dieser ab („Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, // Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel“). Er glaubt zwar durchaus weiterhin an den Schöpfergott, jedoch ist er zugänglich für andere religiöse Sichtweisen, seien es antike Gottheiten, sei es die Magie, sei es der Pantheismus.
Nicht genug jedoch, dass Faust in seinem Leben die Erkenntnis fehlt, nein, er bereut auch, dass er dieses im engen Kerker der Wissenschaft verbracht hat. Er wünscht sich die Nähe zur Natur und ein wahrhaftes Erleben des Lebens, seinen Kerker (gemeint ist das Studierzimmer) verflucht er und verdammt die Einengung durch sein dauerndes Studium, welches nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat. Es hat ihm alle Lebensfreude und Lebendigkeit geraubt. Durch diese Erkenntnis getrieben will er sein Studierzimmer verlassen und ins weite Land aufbrechen, nur ein einziges Buch soll ihn begleiten: Ein Lehrwerk des Nostradamus.
In diesem zweiten Teil der Wehklage Fausts lässt sich erkennen, dass nicht allein eine Erkenntniskrise ihn zermürbt. Zusätzlich ersehnt er neue Erfahrungen und Erlebnisse, die ihn dem wahrhaften Leben näherbringen. Diese Sehnsucht spiegelt seine mephistophelische Seele wider, denn es sind menschliche Erfahrungen, die ihm fehlen. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint als wolle er hauptsächlich die Natur erleben, steckt in seinen Ausführungen auch die Sehnsucht nach Welterfahrung und nach Erotik (nicht umsonst spricht er von seiner Suche nach „Brüste[n]“ (V. 456), dem Quell allen Lebens, zu denen sich die welke Brust Fausts drängt), insgesamt also nach Lebensglück. Er will die Welt mit allen Sinnen erfahren – hier zeigt sich die Epoche des Sturm und Drang, in welcher diese intensiven Erfahrungen eine zentrale Rolle spielten. Zudem war in dieser Epoche die Natur sinnbildlich zu lesen: Sie stand nicht nur für Pflanzen etc., sondern für den menschlichen Lebensquell, die Kraft, mit der Konventionen und Regeln gesprengt werden sollten.
Bevor jedoch Faust wirklich aufbricht, wendet sich die Stimmung des tragischen Monologs nahezu komödiantisch: er bleibt stehen und kann nicht aus seiner Haut, er öffnet das Lehrwerk und beginnt zu lesen. Sofort sticht ihm das Zeichen des „Makrokosmos“, also eine bildhafte Darstellung des Universums und dessen Zusammenhänge, ins Auge. Diese Darstellung einer Weltordnung lässt Faust nahezu euphorisch werden, seine Zweifel scheinen wie weggeblasen. Er spricht ob seiner Entdeckung und vermeintlichen Erkenntnis schon davon, ob er ein Gott sei, weil er die innersten Zusammenhänge der Schöpfung erkannt zu haben glaubt und vermeintlich erkennt, dass ihm die Geisterwelt nicht verschlossen sei. Doch schon kurz darauf merkt er, dass es sich doch nur um einen Trugschluss („ein Schauspiel“) handelt, denn das Zeichen ist doch nur eine trockene Darstellung in einem Buch und lässt Faust gar nichts erkennen.
Hier haben wir Fausts ersten Entgrenzungsversuch bzw. den ersten Versuch einer Transzendenzerfahrung. „Entgrenzung“ meint in diesem Sinne, dass Faust versucht, die Welt und deren innerste Zusammenhänge zu erfahren, also die Grenzen des Menschen zu sprengen. Transzendent meint, dass etwas außerhalb der eigenen Sinneswahrnehmung und Erfahrungswelt liegt. Ein Versuch der Transzendenzerfahrung ist also der Versuch, die Grenzen menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis zu verlassen und göttliches Wissen über das Zusammenspiel von Dingen zu erlangen. Durch die Betrachtung des Zeichens des Makrokosmos will er „alles wissen“, jedoch scheitert dieser Versuch daran, dass die Darstellung nicht auf die wirkliche Welt übertragen werden kann.
Trotz seiner Enttäuschung bricht Faust seine Lektüre nicht ab und entdeckt sogleich das Zeichen des Erdgeistes. Dieses weckt in ihm wieder neue Kraft und die Zuversicht die verschiedensten weltlichen Erfahrungen verstehen zu können. Durch diese Zuversicht verleitet, beschwört er den Erdgeist. Dieser jedoch macht sich über den Schrecken, den Faust bei seinem Anblick spürt, lustig und verspottet ihn ob seiner Vermessenheit, als einfacher Mensch einen Geist beherrschen zu wollen. Er verschwindet und Faust bricht verzweifelt zusammen.
Die Beschwörung des Erdgeistes ist der zweite Entgrenzungsversuch Fausts, diesmal mit Magie. Da er jedoch dem Erdgeist und damit der magischen Welt nicht gewachsen ist, scheitert auch dieser Versuch. Faust ist zu sehr Mensch, als dass er die Welt der Geister verstehen könnte: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, // Nicht mir!“ (V. 512f.)
In diesen Moment der Verzweiflung bricht Wagner ein. Allein dessen Aufmachung (Schlafrock und Nachtmütze) haben schon etwas Komödiantisches, erinnern sie doch sehr an die kleinbürgerliche Welt (bei den Romantikern als Philistertum bezeichnet). Der Famulus (eine studentische Hilfskraft für Professoren) missdeutet Fausts Zusammenbruch als Rezitation einer griechischen Tragödie und verwickelt seinen Professor weiter in ein Gespräch, weil er von diesem lernen möchte, wie man durch die Redekunst seine Zuhörer beeinflussen kann.
Faust winkt die Rhetorik als Blendwerk ab, das man nicht braucht, wenn man wahre Erkenntnis erlangt hat und damit die Zuhörer bannen kann. Auch ist er, im Gegensatz zu Wagner, davon überzeugt, dass man es heute keineswegs weiter gebracht hat als in alter Zeit, und er glaubt nicht daran, dass die breite Masse dazu in der Lage ist, wirkliche Bildung zu erlangen. Diese sei nur wenigen vorbehalten, denn nur diese könnten das Wissen wirklich begreifen, anstatt es sich nur anzulernen.
In dem Dialog treten zwei sehr unterschiedliche Grundhaltungen zur Wissenschaft zu Tage. Während Faust dem Zuschauer bereits als Suchender bekannt ist, der die Universitätslehren als sinnlos bewertet und sich von diesen abgewendet hat, strebt Wagner noch danach, alles Wissen aus Büchern zu erlangen. Während Faust bedauert, dass er nicht das wahre Leben kennengelernt, ja, seinen Lebenshunger gestillt hat, genießt Wagner die Atmosphäre des Studierzimmers und wertet es positiv, dass man „die Welt kaum einen Feiertag“ (V. 531) sieht. Schließlich versteht Faust unter Wissen das wirkliche Verständnis und das genauste Durchdringen der Themen, während Wagner unter Wissen versteht, sich Informationen aus Büchern anzueignen, um nicht zu sagen sie auswendig zu lernen.
Die Unterredung mit Wagner hat an dieser Stelle, wie Faust selbst es nach dessen Abgang sagt, auch die Funktion, den Verzweifelten wieder in die Realität zurückzuholen.
Nachdem Faust das Gespräch mit Wagner beendet hat und dieser abgegangen ist, beginnt ein erneuter Monolog Fausts über seine Lebenskrise: Er erkennt, dass er, obwohl er ein Ebenbild Gottes ist, eben doch nicht in der Lage war, den Erdgeist zu erhalten und sich die Magie zu Nutze zu machen, um sich dadurch über die Grenzen des Menschseins zu erheben. Er fühlt, dass er nicht den Göttern, sondern einem Wurm im Staube gleicht und dass die irdische Welt und auch seine Forschungsinstrumente, mit denen er versucht hat, Erkenntnisse zu gewinnen, ihn nur an sein Scheitern erinnern und ihm nichts bringen.
Bei seiner Betrachtung dieser Gegenstände fällt sein Blick auf eine Flasche Gift und schon hat Faust einen neuen Plan: Indem er dieses Fläschchen trinkt, will er die irdische Welt verlassen und „[a]uf neuer Bahn den Äther […] durchdingen“. Kurz bevor er jedoch das Gift zu sich nehmen kann, hört er Kirchenglocken, den Chor der Engel und der Weiber zur Osternacht. Durch diese wird er an seine Jugend erinnert und auch wenn er nicht mehr an die christliche Lehre der Auferstehung glauben kann, so erfüllt die Erinnerung an seine Jugend ihn doch mit Glück und Wehmut, sodass er den Selbstmordversuch aufgibt.
Der Selbstmord als letzter Entgrenzungsversuch ist in gewisser Weise natürlich der extremste: Er ist bereit, sein irdisches Leben zu beenden, um höhere Erkenntnis zu gewinnen. Hier wird gleichsam deutlich, dass Faust in vielfacher Hinsicht nicht an die christliche Lehre von Himmel und Hölle glaubt. Vielmehr hofft er darauf, auch nach seinem Tod weiterhin streben zu können und seine Sorge ist, dass der Tod das Ende des Strebens und damit Trägheit bedeutet. Die Bestimmung des Menschen ist es, immer tätig zu sein, immer nach etwas zu streben und niemals in Untätigkeit zu verfallen. Anstatt also „Himmel und Hölle“ bzw. „gutes Verhalten und Sünde“ als Polarität zu sehen, geht es bei Goethe um die Frage nach „Tätigkeit und Untätigkeit“.
Alle drei Entgrenzungsversuche scheitern: Faust schafft es nicht aus eigener Macht zu verstehen, „was die Welt // im Innersten zusammenhält“, er findet nicht die Antwort auf die Fragen, worin die Zusammenhänge der Schöpfung bestehen und welche Bestimmung der Mensch hat.
Gerade bei der Beschwörung des Erdgeistes, noch viel mehr aber bei der Reflexion über das Scheitern der Beschwörung zeigt sich zudem der Titanismus Fausts und seine Hybris, die seine Geschichte erst zur Tragödie macht. Dieser Titanismus und die Hybris können als Ursache für seine Existenzkrise verstanden werden: Faust will wie ein Gott sein, nicht nur Ebenbild, sondern gottgleich. Damit verbunden ist der Wunsch nach gottgleicher Allwissenheit, genau wie der Wunsch, alle Extreme des menschlichen Daseins erfahren zu können. Dies erklärt auch, warum er sich gegen alle Normen und Regeln, auch gegen die christliche Religion wehrt. Auf der einen Seite glaubt er an die Schöpfung, gleichzeitig aber kann er die Beschränkung des Menschen im Vergleich zu Gott und die Beschränkung des Einzelnen in seinen Erfahrungen nicht akzeptieren. Damit wird klar: Faust ist nicht wirklich nur ein individueller Mensch, Goethe hat ihn vielmehr als „Stellvertreter der Menschheit“ angelegt. An seinem Beispiel soll im Laufe des Dramas erfahrbar werden, wie das Verhältnis von Mensch und Schöpfung und was der Sinn des menschlichen Daseins ist.