Die folgenden Charakterisierungen beschränken sich auf die wesentlichsten Aspekte der relevantesten Figuren. Sie dienen daher nicht als vollwertige Charakterisierungen im eigentlichen Sinn, sondern stellen vielmehr eine Übersicht der wichtigsten Charaktereigenschaften dar.
Der Gelehrte Heinrich Faust hat alle vier Fakultäten der mittelalterlichen Bildung (Philosophie, Jura, Medizin, Theologie) studiert, womit er sich das weltliche Wissen vollständig angeeignet hat. Dafür genießt er hohes Ansehen in der Bevölkerung (er hat diesen als Doktor gemeinsam mit seinem Vater, einem Alchemisten, aus deren Sicht geholfen, wenn auch Faust der Meinung ist, dass er mehr Menschen getötet als gerettet habe) und auch die Studenten schätzen ihn. Das reicht ihm aber nicht. Er ist derart ambitioniert in seinem Streben, dass er über das bisher Bekannte hinausgehen will, indem er versucht, die Geschicke der Welt in ihrer Gänze zu verstehen. Die Gelehrsamkeit aus Büchern und die Lehren seiner Zeit können ihn keineswegs befriedigen. Dieses unermüdliche Streben nach Höherem, egal in welchem Bereich, ist ein wesentliches Charaktermerkmal und verursacht gleichzeitig seine tiefgehende Existenzkrise.
Die erlangten Erkenntnisse führen ihn nicht zu höherem Glück. Stattdessen fühlt er sich in seiner menschlichen Existenz gefangen, was man vor allem an seinen mitunter starken, emotionalen Ausbrüchen erkennen kann, die inkonstant zwischen tiefer Verzweiflung und erwartungsvollem Forscherdrang wechseln. Fausts Genie geht also gewissermaßen Hand in Hand mit der Melancholie seines Charakters.
Seine depressiven Züge sind teilweise so dominant, dass für ihn sogar Selbstmord infrage kommt. Der Selbstmord ist vor allem der Versuch, die menschliche Hülle zu verlassen und damit auch die Grenzen der Menschheit, um endlich die höhere Erkenntnis zu erlangen, alles über die Welt und wie sie funktioniert zu verstehen.
Doch nicht nur durch den Selbstmordgedanken unternimmt er einen Entgrenzungsversuch, er bedient sich auch bewusst dunkler Magie (z.B. der Erdgeist, später dann auch Mephistos Hilfe), um sein Ziel der Überschreitung naturgegebener Grenzen zu erreichen. Ein gutes Beispiel für jene Grenzüberschreitung ist die Verjüngung, die Faust durch Mephistos Hilfe genießt. In dieser neuen Gestalt ist es Faust auch möglich, vermeintlich erfüllende Liebe zu erleben, die er sich mit Gretchen ersehnt.
In all diesen Ereignissen zeigt sich, dass Faust ein hohes Maß an Selbstbewusstsein besitzt: Er hält sich für sehr gelehrt, für gottesgleich und anderen Menschen überlegen. Auch der dunklen Magie fühlt er sich gewachsen, was deutlich macht, dass er keine Angst vor Gott oder dem Teufel hat.
Dieses enorme Selbstbewusstsein macht ihn zuweilen auch zu einem überheblichen Mann, so verhält er sich sowohl Wagner gegenüber – der übrigens seine einzige Bezugsperson zu sein scheint – oft arrogant und herablassend, er verachtet dessen Begeisterung für Büchergelehrsamkeit, und auch Gretchen nimmt er nicht wirklich ernst, was sich besonders in der Szene der Gretchenfrage zeigt.
Zudem führt Fausts isoliertes Leben und seine Selbstüberschätzung dazu, dass er sich wiederholt egoistisch verhält. Er hat nur noch sein eigenes Wohl im Sinn und zerstört dadurch Gretchens Familie und sogar ihr Leben. Auch wenn er am Ende noch alles dafür tut, um Gretchen vor ihrem Tod zu retten, hat er – durch Mephisto gelenkt – viel Schuld auf sich geladen, die er zunächst verdrängt.
Faust ist also insgesamt als eine recht impulsive und gleichzeitig intelligente Person zu werten, die nichtsdestotrotz den irdischen Versuchungen und teuflischer Manipulation erliegt. Schlussendlich realisiert Faust doch noch, welche Marionette anscheinend aus ihm geworden ist. Sein Handeln wird von ständigem Streben und andauernder Aktivität, ja Ruhelosigkeit, angetrieben, und auch wenn er auf seinem Weg anderen Menschen schadet, hält ihn dies nicht auf.
Man kann in Faust aber nicht nur die „reale Figur“ sehen, sondern auch den Idealtypus des Menschen. Deshalb wird er zum Gegenstand der Wette zwischen Gott und Mephisto. Gott glaubt daran, dass in Faust das ewige Streben nach höherer Erkenntnis nicht erlöschen kann, er wird, wenn er auch auf seinem Weg immer wieder irrt (also z.B. moralisch verwerflich handelt) dennoch letztlich beweisen, dass der Mensch dem göttlichen und damit gutem Schöpfungsideal entspricht. Mephisto wettet dagegen, weil er glaubt, dass er Faust von diesem Streben abbringen und damit beweisen kann, dass der Mensch letztlich seine Grenzen erkennt und aufhört zu streben, sich vielmehr den menschlichen Trieben (animalischen Trieben) hingibt. Indem nun Faust beides in sich vereint (seine zwei Seelen) und tatsächlich niemals aufhört zu streben, gleichzeitig aber auch alle Extreme der menschlichen Erfahrungswelt (Liebe und Hass, Wohl und Wehe usw.) erfahren will, kann er als Kunstfigur verstanden werden, an deren Beispiel Goethe seine Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach dem Zusammenhang zwischen Mensch und Schöpfung beantworten will.
Mephistopheles, die Verkörperung des Teufels, ist das ganze Drama über bemüht, Faust durch die von diesem so ersehnten menschlichen Erfahrungen dazu zu verführen, sein Streben nach dem höheren Sinn der Menschheit aufzugeben, da er ihm im Pakt zugesagt hat, sein Diener zu sein. Dabei versucht er vor allem, Faust mit dem Verbotenen (Magie) und Verruchten (im Prinzip „Wein, Weib und Gesang“) in Berührung zu bringen und ihm die Vorzüge dieser Horizonterweiterung schmackhaft zu machen. Dadurch kommt er selbst gleichzeitig dem Gewinn der Wette mit dem Herrn näher, von der Faust nichts weiß. Durch die von Mephisto angebotenen Erfahrungswelten und deren Beschränkung auf Sexualität, körperliche Leidenschaft und Maßlosigkeit wird deutlich, dass Mephisto dies als Natur des Menschen betrachtet: Für ihn sind die Menschen animalische Wesen, die durch ihr naturell als misslungener Teil der Schöpfung anzusehen sind.
Bedenkt man, dass man bei Faust auch vom mephistophelischen Seelenanteil spricht, so ist genau dieser Teil damit gemeint: Der Teil des Menschen, der seinen animalischen Trieben folgt. Daher ergibt sich: Mephisto ist nicht wirklich als böser Einfluss für Faust zu werten, ganz im Gegenteil. Das Böse ist bereits in Faust – wie in jedem Menschen – verankert, Mephisto bringt es lediglich durch seine geschickte Manipulation zum Vorschein, was seinen äußerst cleveren Charakter untermauert. Was genau meint aber „clever“? Mephisto ist ein Intrigant, der geschickt die Menschen zu manipulieren versteht, indem er ihnen ihre größten Sehnsüchte oder aber auch Schwächen vor Augen führt und sie durch gerissene Gesprächsstrategien dazu bringt, in seinem Sinne zu handeln.
In diesem Sinne will er seiner Rolle als Teufel gerecht werden, indem er Faust verführt, in ihm also die dunkle Seite seines Wesens hervorruft, um seine Wette zu gewinnen und den Pakt zu erfüllen. Teuflisch spinnt er also zerstörerische Intrigen und gibt wirklich alles, um seine Ziele zu erreichen.
Auf der anderen Seite ist er aber dennoch nicht der Teufel aus dem mittelalterlichen Aberglauben. So verzichtet er bewusst auf seine ihm typisch zugeschriebenen Attribute (Pferdefuß, Raben, den Namen „Satan“). Vielmehr ist er – und das passt auch zu der Deutung, dass Mephisto im Wesen jedes Menschen steckt – wandelbar und kann sich jeder Situation anpassen: Um sich Faust zu nähern, verwandelt er sich in einen Hund und wirkt so kaum bedrohlich, vielmehr sogar untergeben (wie der Hund eben dem Menschen). Als er sich Faust das erste Mal offenbart, verkleidet er sich als Student, um ihn so in seiner Existenzkrise zu bestärken, für den Pakt – hier will er Faust ja in die Welt hinauslocken, um ihm das menschliche Leben zu eröffnen – tritt er schließlich als junger Adeliger auf und schließlich zeigen sich auch an anderen Stellen Mephistos Wandlungskünste.
Nichtsdestoweniger sieht sich Mephisto weiterhin als Gegenspieler Gottes – dass das jedoch Selbstbetrug ist, macht Goethe schon im Prolog klar. Ja, Mephisto tritt als nihilistischer Kritiker an Gott auf, als „Geist, der stets verneint“, der, entgegen den Engeln, Gott seine Fehlbarkeit vor Augen führen will, sodass man zunächst den Eindruck gewinnen könnte, dass er einen Widerpart zu Gott darstellt. Doch schon bei der Scheinwette wird klar, dass Gott das Böse in der Welt als Teil der Schöpfung sieht („Es irrt der Mensch, solang er strebt“) und dass Mephisto für ihn in gewisser Weise ein Werkzeug seines Plans ist.
Er sieht ihn als Triebfeder für das Streben Fausts bzw. allgemein der Menschheit („Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange,// ist sich des rechten Weges wohl bewusst.“ „Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen.//Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;//Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu, // der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen.“), was auch erklärt, warum er der Wette scheinbar zustimmt bzw. erlaubt, dass Mephisto auf der Erde seine Pläne verfolgen kann, ohne dass Gott eingreift.
Seine Unterlegenheit gegenüber Gott zeigt sich auch daran, dass sich Mephisto selbstverständlich unter das „Gesinde“ Gottes reiht und dass der Herr den „Schalk“ in Mephisto, also dessen Rolle als Kritiker, als Künder der Wahrheit, schätzt, und daran, dass Mephisto einigen Regeln unterlegen ist, die einem wahren Teufel schlecht zu Gesicht stehen – in solchen Situationen wirkt er machtlos (Er kann nur nach dreimaliger Aufforderung in Fausts Studierzimmer eintreten; das Pentagramm kann ihn theoretisch binden und verhindern, dass er dem Studierzimmer entkommen kann; er vermag es nicht die Zaubertränke der Hexen zu brauen, obwohl er deren Herr ist; Gretchen, als wahrhaft Gläubige und Liebende, kann von ihm nicht gelenkt werden, sie durchschaut ihn sofort). Schließlich charakterisiert sich Mephisto sogar selbst als Teil der göttlichen Macht, nicht als Gegenspieler: Er sei „[e]in Teil von jener Kraft,// Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“
Auf der einen Seite ist also Mephisto der ironische, oft sogar zynische Kritiker und Manipulator, der es schafft, Faust zu blenden und auch andere Figuren zu manipulieren, der ein Gespür für die Wünsche und Schwächen der Menschen hat und ihnen diese auch vorhält, sie damit verletzt.
Auf der anderen Seite ist er aber auch eine komische, nahezu sympathische Figur: So zeigt er sich als Satiriker auf alles und jeden. Er führt in seinem Beratungsgespräch des Studenten alle Fakultäten geschickt ad absurdum und hält beispielsweise in Auerbachs Keller nicht nur den Hofschranzen, sondern der Menschheit selbst satirisch den Spiegel vor. Auch sein Umgang und das Spiel mit Marthe, die Mephisto sogleich als geschaffen „für das Kuppler- und Zigeunerwesen“ erkannt hat, wirken komisch und schließlich ist natürlich auch seine oben bereits beschriebene Machtlosigkeit oft genug Anlass zum Lachen.
Somit zeigt sich, dass Mephisto – genau wie Faust – nicht nur als im Drama real existierende Figur zu sehen ist, sondern wieder auch symbolisch. Ist Faust als Idealtypus des Menschen zu verstehen, so ist Mephisto ein Prinzip, eine Verkörperung der sinnlichen Seele des Menschen, die genauso berechtigt ist wie die göttliche, strebende Seele. So erklärt Goethe wiederum seine Auffassung vom sinnvollen Menschendasein: Beide Seelenanteile haben ihre Berechtigung und die Ausgewogenheit beider ist das Ziel, nachdem wir streben müssen.