„Faust”, besonders der erste Teil, ist zwar rein von seiner Entstehungszeit aus betrachtet ein Drama aus der Weimarer Klassik, hat aber strukturell mehr zu bieten als ein rein klassisches (geschlossenes) Drama nach Aristoteles und richtet sich damit eher nach der Formrevolution des Sturm und Drang. Auf die Einheit der Zeit (kurzer Zeitraum, in dem sich das Geschehen abspielt) und die Einheit des Ortes (gleicher Ort, an dem sich das Geschehen abspielt) wurde verzichtet, genau wie auf die Einteilung in fünf Akte. Die Einheit der Handlung (zusammenhängender Handlungsverlauf) ist allerdings vorhanden. Diese wird vor allem durch die Einteilung in Rahmen- und Binnenhandlung gegeben sowie durch das verbindende Element der Figur Faust. Somit zeigt sich schon hier Goethes Experimentierfreudigkeit, er erschafft ein Mischwerk aus offenem und geschlossenem Drama (siehe literarische Gattungen).
Das Besondere an der Struktur dieses ersten Dramenteils ist jedoch, dass es zwei Tragödien in einer großen Tragödie vereint. Nach den drei einleitenden Szenen (Zueignung, Vorspiel auf dem Theater, Prolog im Himmel), in denen die Wette zwischen dem Herrn und Mephisto als erregendes Moment die wichtigste Rolle für den weiteren Dramenverlauf spielt, kommt zuerst die sogenannte “Gelehrtentragödie” gefolgt von der “Gretchentragödie”.
Die erstere erstreckt sich über sechs Szenen, die für sich gesehen die vollwertige Struktur eines Dramas aufweisen, denn man könnte sie thematisch in fünf Akte unterteilen.
Die Verzweiflung Fausts über die Begrenztheit der Wissenschaft dient hierbei als Exposition (Einführung in das Drama).
Die steigende Handlung kann durch die Begegnung mit dem Erdgeist und den darauffolgenden Selbstmordversuch repräsentiert werden. Die Begegnung mit dem merkwürdigen Pudel lässt die Handlungskurve weiter ansteigen, bis sie schließlich im Teufelspakt mit Mephisto, dem ersten Höhepunkt, gipfelt.
Danach stellt Mephisto sein Können in Auerbachs Keller zur Schau und führt Faust anschließend in die Hexenküche, wo dieser verjüngt und somit seine Triebhaftigkeit wiedererweckt wird, was als Katastrophe für den weiteren Handlungsverlauf (nicht jedoch als klassische Katastrophe, bei der jemand stirbt, allerdings als vorläufiges Scheitern des Gelehrten) angesehen werden kann. Diese Einteilung ist allerdings diskutabel, da wesentliche Aspekte des geschlossenen Dramas nicht eindeutig nachweisbar sind.
Die Gretchentragödie nimmt die folgenden 18 Szenen ein. Auch hier kann wieder in fünf Akte unterteilt und damit die Struktur eines klassischen Dramas erkannt werden – in diesem Fall sogar deutlich unstrittiger:
Als Exposition dient die Begegnung Fausts mit Gretchen in der Szene „Straße“, in der schon Fausts sexuelles Verlangen nach Gretchen deutlich wird.
Die steigende Handlung ist die Intensivierung dieser Beziehung in den Szenen „Abend“ (Gretchen gesteht sich ein, dass ihr der Fremde nicht aus dem Kopf geht, Faust erkennt den charakterlichen Reiz an Gretchen und versteckt das Schmuckkästchen, dessen Fund die Handlung erst richtig vorantreibt, weil Gretchen nur deshalb bei Marthe sein wird), „Straße“ (Fausts Verlangen intensiviert sich, er will Gretchen unbedingt für sich gewinnen), „Der Nachbarin Haus“ (hier arrangiert Mephisto das erste Rendezvous zwischen den beiden), „Straße“ (Faust stimmt zu, Marthe anzulügen, er zeigt so, dass er Gretchen unbedingt wiedersehen will), „Garten” (Faust und Gretchen lernen sich näher kennen, Fausts sexuelles Verlangen ist mittlerweile vollends in das Streben nach wahrem Liebesglück umgeschlagen) und „Ein Gartenhäuschen“, in dem erste Intimitäten zwischen Gretchen und Faust stattfinden. Das konkrete steigernde Moment findet beim ersten Rendezvous statt.
Es folgt der Höhe- und Wendepunkt: Faust und Gretchen reflektieren jeweils ihre Beziehung, wobei Faust deutlich macht, dass er Gretchens Unglück in Kauf nimmt, damit er sie wiedersehen kann (Wald und Höhle). Gretchen hingegen wird sich ebenfalls bewusst, dass sie bereit ist, mit ihm zu schlafen, um ihm zu gefallen (Gretchens Stube).
Die verschiedenen Ereignisse, die Schuld auf Gretchen laden (der versehentliche Giftmord an ihrer Mutter, der Sex mit Faust, der Tod ihres Bruders und die Ermordung ihres Kindes), sowie die religiösen Differenzen zwischen Faust und Gretchen bei der Gretchenfrage können als absteigende Handlung betrachtet werden. Am Schluss ist Gretchens Tod die Katastrophe bzw. die Rettung durch den Himmel ihre Reinigung (Katharsis).
Die genaue Einteilung der Akte muss nicht zwangsläufig so wie angegeben sein, allerdings offenbart allein der Fakt, dass eine Zweiteilung möglich ist, die zugrundeliegende Dramenstruktur. Goethe hat hier also gewissermaßen Tragödie an Tragödie geknüpft und daraus ein großes Ganzes geschaffen, was im zweiten Teil des Dramas dann noch weitergeführt wird. In diesem Teil wird Mephistos Versuch, Faust von seinem ewigen Streben abzubringen und ihn zur Akzeptanz der menschlichen Grenzen zu führen, fortgesetzt, gleichzeitig damit erfährt Faust nun, nachdem er die Welt des „kleinen Mannes“ kennengelernt hat, in den nächsten Stationen seiner Weltfahrt (Kaiserhof, Helena und Küstenherrschertum) die weite Welt.
Bereits auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass es sich bei „Faust” um ein besonderes Werk der Dramatik handelt. Zusätzlich zur Gliederung in Szenen und zur drehbuchähnlichen Ausgestaltung fällt auf, dass es größtenteils gereimt ist, also ein typisch lyrisches Element aufweist.
Auffällig ist außerdem, dass Goethe verschiedene Versmaße verwendet, die auf Charakter, Situation und Gefühlslage abgestimmt sind. Mephisto spricht beispielsweise regelmäßig in Madrigalversen (7, 8 oder 11 Silben pro Vers bei variierendem Takt in freier Reimabfolge; V. 281ff), eine Versform, die bei Goethe als „Umgangssprache“ eingesetzt wird und zugleich an vielen Stellen pointiert wirkt.
Faust hingegen spricht am Anfang der Tragödie zum Beispiel in Knittelversen (vierhebiger Vers mit unregelmäßiger Taktfüllung; V. 1-3), was für die Unausgeglichenheit und Heftigkeit seiner momentanen Gefühlslage steht, er stolpert sozusagen in der Sprache.
Der Blankvers wird wiederum auch von Faust verwendet, wenn er in feierlicher Stimmung ist und besonders überzeugend wirken will. Diese Versform war der Standardvers in der klassischen deutschen Dichtung. Es gibt noch viele weitere Formen der Verskunst, die in „Faust” vertreten sind und somit eine charakteristische Auffälligkeit darstellen.
Weiterhin sind neben den Besonderheiten des Metrums und der Verse natürlich noch unzählige Stilmittel vorhanden. Auch die Wortwahl und die damit verbundene Wirkung sind bemerkenswert, da sie – wie die spezielle Versgestaltung – für den jeweiligen Protagonisten kennzeichnend sind und damit auf dessen Charakterzüge, Gefühle oder Intentionen verweisen können. Eine genauere Darstellung würde hier den Rahmen sprengen.