Da Goethe an „Faust“ über mehrere Jahrzehnte arbeitete, haben ihn zwangsläufig die Einflüsse verschiedenster Epochen geprägt. Romantische Ideale haben ihn während der Entstehungszeit von Faust beeinflusst, allerdings waren vor allem die Gedanken der Klassik und des Sturm und Drang (damit verknüpft aber auch der Aufklärung) präsent.
Im Sturm und Drang versucht der Mensch, seine eigenen Grenzen zu erkunden und schließlich zu überschreiten. Er will aktiv seine persönliche Weiterentwicklung angehen, um ein nahezu gottgleiches Selbstverständnis zu gewinnen. Faust versucht dies beispielsweise aktiv, als er sich bemüht, den Erdgeist zu beschwören (V. 442ff) und im Zuge dessen sogar etwas Göttliches in sich selbst vermutet (V. 439). Das ganze titanische Wesen Fausts, sein immerwährendes Streben nach Grenzüberschreitung und sein Selbstbild als gottesgleiches Wesen ziehen sich durch das Drama, besonders aber durch die Gelehrtentragödie.
Dieses Grenzgängertum und der Titanismus Fausts sowie sein Streben nach der höheren Erkenntnis decken sich mit dem Geniegedanken: Auch im Sturm und Drang gab es das verbreitete Bild des schaffenden Menschen, aus dessen Innersten heraus sich großartige Werke entfalten konnten. Diese Selbstüberschätzung geht einher mit einer leidenschaftlichen, gefühlsbetonten Sprache.
Vor allem die Subjektivität und individuelle Freiheit stehen bei dieser Bewegung im Mittelpunkt. Die gesellschaftlichen Normen werden größtenteils als Zwänge verstanden, die den impulsiven Geist daran hindern, sich vollständig zu entfalten. Deshalb wird auch mit so mancher Konvention gebrochen, um das eigene Streben zu verwirklichen. Dadurch wird weiterhin die sozialkritische Haltung (vor allem gegenüber gesellschaftlicher Ungleichheit) dieser Epoche deutlich und auch die Ablehnung der aufklärerischen Gedanken, die allzu sehr die Logik und den Verstand in den Fokus rücken. Dieser Widerstand gegen gesellschaftliche Normen zeigte sich beispielsweise auch bei der Auflösung des klassischen Dramas hin zur offenen Form und bei der Mischung von verschiedenen Gattungselementen, z.B. der Komik mit der Tragik – beides wie bei „Faust“. Zudem weist die Gretchentragödie viele Parallelen zum bürgerlichen Trauerspiel auf, eine Gattung, in der es grundsätzlich um die Liebe über Standesgrenzen hinweg geht, die letztlich immer scheitern muss – sei es durch die Bigotterie des sozialen Umfeldes, die Machtspiele des Adels, die Verführermentalität des Mannes oder durch ein Zusammenspiel aus allem.
Die Aufklärung ist die Rahmenepoche für den Sturm und Drang, an der dieser sich einerseits reibt, den er andererseits aber auch in einzelnen Bereichen unterstützt. So wundert es nicht, dass diese Spannung zwischen Aufklärung und Sturm und Drang in Goethes Werk Einzug gehalten hat. Ist Faust ein Vertreter des Sturm und Drang, so kann er als Gegenfigur zu Wagner kritisch mit der Orientierung an Wissenschaft und Verstand umgehen. Mephisto wiederum, der es wie kein anderer in dem Werk versteht, sich seiner Verstandesschärfe zu bedienen, um kritisch und entlarvend mit seiner Welt umzugehen, führt das überbordender Pathos und den Idealismus des Sturm und Drang in der Figur Fausts vor.
Auch dass Gott die Individualität und das Streben nach Wissen und höherer Erkenntnis wertschätzt, ist eine aufklärerische Vorstellung, genau wie die Ablehnung der Sünde und die Umdeutung dieser zum Irrtum. So wird bei Goethe deutlich: Der Mensch hat sowohl die Leidenschaft des Sturm und Drang als auch den Verstand der Aufklärung in sich und beides zusammen macht den Menschen menschlich vollständig.
Eines der typischsten Merkmale der Klassik behandelt die Frage nach der eigentlichen Bedeutung des Menschseins und wie man ein „idealer Mensch“ wird. Dieses anthropologische Grundprinzip wird in vielerlei Hinsicht in „Faust“ aufgegriffen und verlangt dem Leser zwangsläufig eine moralische Bewertung ab. So ist die Funktion der ästhetischen Erziehung durch Literatur natürlich gegeben.
Neben der Leitfrage des Dramas zeigt sich auch im Menschenbild die Klassik deutlich: Das Streben nach innerer Harmonie ist das, was letztlich den Menschen zu einer edlen Seele macht. Indem Faust immer einen Teil seiner Seele in den Fokus rückt, ist es klar, dass er keine Ruhe finden kann. Dieses Streben als göttlicher Teil des Menschen ist wiederum sowohl im Sturm und Drang als auch in der Weimarer Klassik nachweisbar.
Aber auch Faust selbst muss sich intensive Gedanken darüber machen, was all seine Taten und sein Bund mit Mephisto generell auf menschlicher Ebene für Probleme mit sich gebracht haben. Besonders in der Szene „Wald und Höhle” wird einem vor Augen geführt, welch gravierende Konsequenzen Faust in Kauf nimmt, um seine Bedürfnisse zu befriedigen (V. 3221ff; V. 3232ff; V. 3303ff; V. 3364f). Passenderweise ist der Anfang dieser Szene in Blankversen (reimlose Fünftakter) geschrieben, was eine ernste Atmosphäre vermittelt.
Die Gestaltung der Hauptcharaktere kann ebenfalls als klassisch angesehen werden, da sie eher an überhöhte Idealtypen erinnern, als einzigartig zu sein. Dazu wurde bei den Figurencharakteristika schon einiges gesagt.
Goethe lehnt weitesgehend die Ideen der Romantik ablehnte, weil er in diesen die Gefahr sieht, dass sich das Individuum durch seinen überhöhten Subjektivismus in sich selbst verliert und sich zu sehr von der Realität abgrenzt (kein Wunder, hat Goethe doch seine Sturm und Drang-Zeit und den damit verbundenen Subjektivismus bereits lange hinter sich gelassen). Nichtsdestoweniger finden sich durchaus romantische Elemente in dem Drama, was Goethe selbst zugibt. So ist die Reflexion über das Wesen des Theaters durchaus der Frage nach Universalpoesie und Selbstreflexion des Werkes in der Romantik gleichzusetzen. Außerdem, deutlich auffälliger, sind natürlich die magischen und religiösen Motive zu nennen. Im Gegensatz zum Romantiker jedoch, der sich in seiner Existenzkrise in eine phantastische Welt geflüchtet hätte, bricht Faust auf, um das wahre Leben kennenzulernen.