Die wichtigste Deutung, nämlich dass das Werk der Versuch Goethes ist, die Frage „Was ist der Sinn der göttlichen Schöpfung, vor allem des Menschen?“ in seinem Sinne zu beantworten, ist zu umfangreich, als dass sie hier zusammenfassend dargestellt werden könnte. Die einzelnen Aspekte wurden jedoch in den bisherigen Ausführungen erläutert.
Das man „Faust”, das wohl bedeutendste Werk der deutschen Literaturgeschichte, jedoch in Teilbereichen auf verschiedenste Weisen deuten kann, dürfte nicht überraschen. Wichtig ist es hier demnach umso mehr, sich auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. Hier werden entsprechend einige Möglichkeiten der Interpretation aufgezeigt und kurz angeschnitten, um dir eine Vorstellung der Herangehensweise zu vermitteln.
Wie bereits an mehreren Stellen angeführt ist „Faust“ das Lebenswerk Goethes und damit gleichzeitig auch eine Fundgrube seiner Lebensthemen. Als umfassend gebildeter Mensch, der selbst nach höherer Erkenntnis strebte, ist es nicht verwunderlich, dass man einige Parallelen zwischen Goethe und Faust ziehen kann. So hat auch er als junger Vertreter des Sturm und Drang danach gestrebt, Grenzen zu überschreiten, und auch er wandte sich von den von ihm als unzulänglich empfundenen Fakultätswissenschaften ab. Vielmehr beschäftigte sich Goethe tiefgehend mit naturwissenschaftlichen Phänomenen. Eine seiner bekanntesten Errungenschaften ist der Beweis der Existenz des Zwischenkieferknochens beim Menschen. Außerdem faszinierten ihn auch die Chemie und Alchemie, dabei setzte er sich mit offiziellen, aber auch geheimen Lehrschriften auseinander. Doch nicht nur Faust weist Wesenszüge von Goethes Charakter auf. Auch Mephistos ironische, zuweilen bitter-böse Art bezeichnete Goethe selbst als Teil seines Wesens, sodass Goethes widersprüchlicher Charakter dichterisch hier zwei verschiedenen Figuren zugeschrieben wurde.
Neben den eigentlichen Wesenszügen spiegeln sich auch Goethes religiöse Ansichte n wie auch sein Menschen- und Weltbild in dem Werk wider. Goethe sah, genau wie Faust und Mephisto, die Kirche kritisch, er wies selbst eher eine pantheistische Überzeugung auf, er glaubte also durchaus, dass Gott existiert, aber eben nicht im Sinne der Kirche, sondern als Gefühl, als Teil in allen Dingen und Menschen. Sein Weltbild und damit auch seine Vorstellung der Schöpfung war von dem Glauben an Polarität geprägt – dem sogenannten Dualismus: Es kann kein Gut ohne Böse, keine Freude ohne Leid, keinen Gott ohne den Teufel geben usw. Dabei stehen diese beiden Pole immer in Spannung und streben gleichzeitig nach Harmonie, so funktioniere die Schöpfung, so entstehe immer Neues und Altes zerfalle. Dies schlägt sich natürlich auch im Menschenbild nieder: Der Mensch ist ein Wesen mit zwei Seelen, die eben auch nach Gegensätzen streben, aber nur dann den vollkommenen Sinn des Lebens erfüllen, wenn sie in Einklang gebracht, also beide befriedigt werden. Da aber die Seelen Gegensätze anstreben, so ist es menschlich, dass Irrtümer begangen werden. Deshalb ist es zwar der Sinn des Menschen, immer nach Erfüllung höherer Bestimmungen zu streben, es ist aber nicht schlimm, wenn er dabei Fehler begeht.
Schließlich hat Goethe, wie bereits bei der Stoffgeschichte erläutert, auch biographische Erlebnisse in dem Werk verarbeitet: Nicht nur die Hinrichtung der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brand, sondern auch seine eigene Beziehung zu Friederike Brion lassen sich in der Gretchentragödie wiedererkennen. Diese war eine Pfarrerstochter, deren tugendhaftes und liebliches Wesen Goethe zuerst beeindruckte und literarisch inspirierte (So entstanden einige Sturm und Drang-Gedichte während ihrer Beziehung, z.B. das „Mailied“ und „Willkommen und Abschied“), doch schon bald spürte er, dass es ihn wieder in die Ferne zog, sodass er Friederike verließ, ohne sich jedoch persönlich zu verabschieden. Erst aus Frankfurt trennte er sich via Brief von ihr.
Eine Möglichkeit ist, speziell auf den Zusammenhang von Protagonist und Ort einzugehen. In seiner ersten Szene befindet sich Faust nämlich in einem recht einengenden, gotischen Zimmer. Diesen Umstand kann man nun auch auf sein Innenleben transferieren, das er sich durch die Begrenztheit des Wissens auch beschränkt sieht. Außerdem kann man noch die stilistische Ausgestaltung der Verse miteinbeziehen (siehe 4.2), die die innere Verfassung des Sprechers ebenfalls widerspiegelt.
Im Verlauf der Geschichte – vor allem nach dem Pakt mit Mephisto – hält sich Faust in deutlich belebteren (Auerbachs Keller), außergewöhnlichen (Hexenküche) und sogar eigentlich verbotenen (Abend) Orten auf, was darauf schließen lässt, dass auch Fausts Innenleben durch Mephistos Umtriebigkeit neuen Emotionen und Eindrücken ausgesetzt wird. In der Szene „Wald und Höhle” befinden wir uns beispielsweise in der wilden, offenen Natur und ebenso wild und offen zeigt sich Faust, als er aufgebracht sein Leid beklagt.
Am Ende des Dramas in der Szene „Kerker” befindet sich Faust mit Mephisto und Gretchen in einem Gefängnis. Er hat also im Vergleich zu seinem einengenden, gotischen Zimmer vom Anfang nicht wirklich Fortschritte gemacht, sondern ist letztendlich in einem noch bedrückenderen Umfeld, das auf die Hinrichtung seiner Geliebten ausgerichtet ist. Mephistos Beistand hat Fausts Lebenssituation also eher verschlimmert, was man allein aus dem Zusammenhang von Person und Ort bereits deuten könnte.
Mit dieser berühmten Frage nach Fausts religiösen Ansichten (V. 3415) will Gretchen für sich herausfinden, inwieweit eine Liebesbeziehung zu Faust eine Zukunft hat. Es kommt schließlich heraus, dass Faust als Pantheist (Pantheismus= alles ist von Gott beseelt; keine „personifizierte” Gottheit) andere religiöse Vorstellungen als Gretchen hat. Gretchen sucht als durchweg fromme Christin jedoch einen Mann, der auch ihre christlichen Werte von Heirat und gemeinsamer Familie teilt. Kurz gesagt ist es für Gretchen ungemein wichtig, ihr Leben gläubig und den religiösen Richtlinien entsprechend zu führen, doch dieses kurze Gespräch mit Faust offenbart ihr eigentlich bereits, dass er nicht der richtige Lebenspartner für sie sein kann, zumindest dann nicht, wenn sie sich selbst treu bleiben will.
Die oben genannten Ideen sind allerdings nur ein Bruchteil des Interpretierbaren. Weiterhin kann man die Symbolik verschiedener Motive genauer unter die Lupe nehmen.
Beispielsweise könnte man näher untersuchen, inwieweit das Fliegen und die Sehnsucht nach dem Schwerelosen Fausts Charakter erfüllen, denn bei seinem Selbstmordversuch sieht sich Faust auf einen schwebenden Feuerwagen gehoben (V. 702). Außerdem wünscht er sich einen Zaubermantel, der ihn in fremde Länder trägt und ihn Neues erleben lässt (V. 1122). Er will also aus der begrenzten Welt in unendliche Weiten entschweben. Genau diesen Wunsch erfüllt ihm Mephisto gewissermaßen, indem er ihn unter anderem mithilfe eines Fasses (Auerbachs Keller) fliegen lässt.
Es dürfte nicht verwunderlich sein, dass Gesellschaftskritik auch in „Faust” in vielerlei Hinsicht eine Rolle spielt: In Auerbachs Keller sieht man Studenten, die eigentlich als gesellschaftlich etabliert anzusehen sind, versoffen Lieder singen (V. 2124ff). In einer anderen Szene führt Mephisto im Studierzimmer einen gebildeten Studenten vor, indem er sich als Faust ausgibt (V. 1868ff).
Der Soldat Valentin verachtet seine Schwester als Hure (V. 3730), weil sie sich auf Faust eingelassen hat, und steht damit als Stellvertreter der bürgerlichen Schicht, für die die Tugend als höchstes Gut galt. Besonders junge Frauen wurde so leicht zum Opfer gesellschaftlicher Schmähung. Das gemeine Bürgertum, unwissende Gelehrte und Soldaten mit Doppelmoral sind nur ein paar Protagonisten der Gesellschaft, die hier mal offensichtlicher, mal subtiler kritisiert werden.