Die Revolutionsbewegung von 1848/1849 strebte die Gründung eines Nationalstaats an, scheiterte jedoch bei dem Versuch. Mit der Gründung des deutschen Reiches am 18.01.1871, bei der sich König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser proklamierte, war dieses Ziel jedoch wieder zum Greifen nah. Allerdings wurde die Nationalbewegung erneut enttäuscht, da es sich nicht um eine demokratisch-parlamentarische Ordnung, sondern vielmehr um einen autoritären Obrigkeits- und Machtstaat (Einheit ohne Freiheit) handelte.
Die prägendste Person in diesem Zeitraum war Otto von Bismarck, der von 1871 bis 1890 Reichskanzler des neu gegründeten Staates war. Zusammen mit konservativen und adelig-großbürgerlichen Kräften des Reiches, und ohne den Einbezug und die Partizipation der breiten gesellschaftlichen Mehrheit, bestimmte er die politischen Entwicklungen, die sich zu einer demokratiefeindlichen Ideologie entwickelten.
Diese politische Ordnung wird mit dem Begriff Obrigkeitsstaat gekennzeichnet und drückt sich bereits im folgenden Zitat Bismarcks aus dem Jahr 1862 aus: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die Fragen der Zeit entschieden – das ist der Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“ Charakteristisch für sein Vorgehen war also ein hartes politisches und gesellschaftliches Durchgreifen.
Ein Merkmal des Obrigkeitsstaates war beispielsweise die von oben, von deutschen Fürsten auferlegte Verfassung von 1871. Diese entstand nicht, wie bei der Verfassung von 1849 geplant, aus der Kraft des Volkes und aus der Revolution heraus, sondern durch eben jener deutschen Fürsten. Nachdem die Revolution von 1848/1849 jedoch gescheitert war, scheiterte auch die für damalige Verhältnisse sehr progressive Verfassung, die dem Volk viele Rechte gegenüber dem Kaiser zusichern sollte. Stattdessen wies die Verfassung von 1871 einige antidemokratische Elemente auf.
Wie das Schaubild zeigt, hatte der Kaiser, der gleichzeitig preußischer König war, sehr viel Macht durch zahlreiche Befugnisse auf sich vereinigt. Er ernannte den Reichskanzler, der ebenfalls preußischer Ministerpräsident und zugleich Vorsitzender des Bundesrates war. Dadurch konnte der Kaiser auch indirekt Einfluss auf den Bundesrat nehmen. Ebenso konnte er den Reichstag einberufen, eröffnen, vertagen und schließen, sodass dieser nur einen überschaubaren Einfluss nehmen konnte. Dass weder die Regierung noch der Reichskanzler vom Parlament bestätigt werden mussten, trug ebenfalls zu dem großen Machtvolumen des Kaisers bei und kann ebenfalls als antidemokratisch angesehen werden.
Ein weiterer kritischer Punkt der Verfassung war das ungleiche Wahlrecht: Es durften ausschließlich Männer über 25 Jahre wählen, wobei sie anhand ihres Steueraufkommens in drei unterschiedliche Klassen eingeteilt wurden, die wiederum unterschiedliche Stimmkraft hatten. Frauen hingegen durften nicht wählen, forderten dies aber bereits ab diesem Zeitpunkt ein. Doch erst 1918, mit der Einführung des Frauenwahlrechts, hatte die Frauenbewegung ihr Ziel erreicht. Auch gewisse Grundrechte für die Bürgerinnen und Bürger waren nicht in der Verfassung von 1871 festgeschrieben.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es sich bei der Verfassung von 1871 weder um eine demokratische, noch um eine auf Rechtsstaatsprinzipien beruhende Verfassung handelte. Konkreter gesagt: Auch wenn der Staat moderne Prinzipien, wie eine Verfassung, ein Parlament und ein Wahlrecht vorsah, blieben diese jedoch in traditionellen Machtstrukturen bei der Exekutive verortet, indem dem Reichskanzler weitgreifende Macht eingeräumt und die gesamte Bevölkerung nicht als gleichberechtigte Wählerschaft behandelt wurde.