Mit dem Sieg Deutschlands über Frankreich und der Gründung des deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles im Jahr 1871 war Otto von Bismarck an seinem politischen und persönlichen Zenit angekommen. Die Mehrheit der deutschen Historiker stand hinter Bismarck und seiner teilweise ambivalenten Politik, die als Ziel die Wahrung der Einheit als Nation und eines starken Staates vorsah. Nur wenige Historiker übten Kritik an seinem Vorgehen.
Einige Stimmen, wie die des ehemaligen Nationalversammlungs-Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirche und Historiker Georg Gottfried Gervinus, hegten große Bedenken gegenüber Bismarcks Politik und sahen darin eine Gefahr für die friedliche Zukunft Deutschlands. Gervinus kann mit seiner Haltung als einer der ersten Vertreter der "Sonderwegsthese" angesehen werden.
Selbst nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg hielten viele deutsche Historiker an den Ideen und dem Weg Bismarcks fest. Die Bevölkerung sehnte sich nach Ordnung und Struktur, die unter dem „Eisernen Kanzler“ Bismarck gegeben war. Nicht ohne Grund verbreitete sich in der Zeit der Weimarer Republik ein Bismarck-Kult, indem seine Person für sein Handeln und als herausstechende Figur für die Formung einer deutschen Identität idealisiert wurde. Auch die Niederlage im Ersten Weltkrieg konnte seinem Ansehen nichts anhaben – vielmehr wurde das Scheitern Wilhelm II. zugerechnet.
Auch zu diesem Zeitpunkt gab es nur eine kleine Minderheit, die die Bismarck’sche Politik und deren Ergebnisse kritisch betrachteten. Fehler sah beispielsweise Arthur Rosenberg in der Verfassung sowie in der mangelhaften Integration der unterschiedlichen Kräfte im deutschen Kaiserreich. Er sprach von einer „Dauerkrise“, die schon länger anhielt und sich im ersten Weltkrieg noch mehr manifestierte. Das Reich unter Bismarck sei „von Anfang an todkrank" gewesen.
Auch der deutsche Historiker Eckart Kehr pflichtete Rosenberg bei und sah noch weitere Probleme in der Bis–marck’schen Führung, insbesondere in den Bereichen Aufrüstung, Außenpolitik und einem aggressiven Imperialismus sowie dem Dualismus zwischen Militär und ziviler Politik. Hierbei drückte die verfolgte Parole "Macht vor Recht" eine klare Befürwortung des Militärs gegenüber zivilem Denken, Rechtsprinzipien und einer außenpolitischen Rationalität aus.
Außerdem war Bismarcks Innenpolitik von Manipulationen geprägt: Erst instrumentalisierte Bismarck die liberalen Kräfte für seine Zwecke, um sich kurze Zeit später von ihnen abzuwenden. Gleiches geschah bei der Begegnung mit politischen Gegnern, wie der Zentrumspartei und den Sozialisten, die er beide als „Reichsfeinde“ bezeichnete. Der entfachte „Kulturkampf“ und sein Politikstil mit „Zuckerbrot und Peitsche“ sind weitere Formen seines manipulativen Führungsstils. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung wird dieses Verhalten, um politische Mehrheiten zu gewinnen, als „bonapartistische" Herrschaftsweise bezeichnet.
Ein ähnliches Bild zeichnete sich in der Außenpolitik ab: Auf der einen Seite trat er als „ehrlicher Makler“ auf, der das Kaiserreich als „saturiert“ ansah und der die deutsche Nation und den Frieden bewahren wollte. Auf der anderen Seite gründeten all diese Maßnahmen und Aussagen auf machtpolitischen und taktischen Kalkül.
Die Option eines Präventivkrieges war für Bismarck nie ganz ausgeschlossen. Erst als er die Gefahr der Triple-Entente zwischen Frankreich, England und Russland erkannte, schwenkte er in seiner Politik um. Allerdings konnte er dieses politische Taktieren nur schwer durchhalten, da sich ein zunehmend einnehmender Militarismus durchsetzte und das Streben nach Einfluss auf internationaler Ebene und imperialistischer Expansion den Druck auf seine Außenpolitik erhöhte. Dies führte zur Entlassung Bismarcks und der Übernahme durch Wilhelm II, der ein weitaus aggressiveres Vorgehen verfolgte als Bismarck.
An die Aussagen der beiden Historiker Rosenberg und Kehr schloss sich in den 1960er und 1970er Jahren auch Hans-Ulrich Wehler und die sogenannte Bielefelder Schule an. Sie betrachteten die bismarcksche Ära ebenfalls aus einer kritischen Perspektive, wobei jedoch nicht Bismarck selbst im Mittelpunkt der Betrachtungen stand, sondern vielmehr die Frage um die strukturellen Widersprüche des 19. Jahrhunderts in der deutschen Geschichte und dem damit verbundenen „Rückstau politischer Modernisierung“, repräsentiert durch Bismarck.
Damit ist gemeint, dass es auf der einen Seite eine sich schnell und modern entwickelnde Industriewirtschaft gab. Auf der anderen Seite beherrschten aber weiterhin eine soziale Hierarchisierung zwischen Arbeitern und Unternehmern die Gesellschaft sowie ein konservatives und rückständiges Vorgehen innerhalb der Verfassungspolitik, indem von oben herab, ohne die Beteiligung der Bevölkerung, regiert wurde. Durch diese kontroverse Konstellation zwischen Aufbruch und Modernisierung sowie Einschränkungen und Beibehaltung des Status Quo konnte eine vollständige Modernisierung, auch im industriellen Sektor, nicht gelingen. Vielmehr kam es zu einem Rückstau an versäumten politischen Modernisierungsmöglichkeiten, indem das deutsche Kaiserreich den Entwicklungen der Zeit hinterherhinkte.
Wehler rückte die Frage nach dem „deutschen Sonderweg" unter neuen Blickwinkeln in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses, nämlich unter Betrachtung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945. Die Verfechter der Sonderwegsthese verfolgten in diesem Sinne überwiegend den Gedanken, dass die Machtübernahme durch Hitler und das Aufstreben des Nationalsozialismus als logische Entwicklung des 1871 neu gegründeten deutschen Nationalstaates geschehen war. Sie sahen in dem großen Modernisierungsdefizit in der Industrie, in verfassungspolitischen Angelegenheiten und einer sozialen Hierarchisierung, wie vorab näher erklärt, ein entscheidendes, strukturelles Kriterium für den späteren Aufstieg des Nationalsozialismus.
Auch Helmuth Plessners Begriff der „verspäteten Nation“, stützt diese Vermutung: Deutschland war, verglichen mit den westlichen Nachbarstaaten Frankreich und Großbritannien, hinsichtlich der Bildung eines Nationalstaats und einer nationalen Einheit spät dran. Zudem fielen diese Ereignisse in eine spannungsvolle Zeit, in der verschiedene Probleme gleichzeitig auftraten. Dazu zählten die sozialen Probleme einer weiterhin vorhandenen Klassengesellschaft, die sich in der Sozialen Frage ausdrückten, die Forderung nach der Demokratisierung der Verfassung sowie eine Liberalisierung und Modernisierung der Industrie und der Wirtschaft. Aufgrund der Überschneidung und oftmaligen Gleichzeitigkeit der Ereignisse und Forderungen, die zudem noch sehr schnell passierten, traten unweigerlich Schwierigkeiten und Konflikte auf.
Insbesondere bei der Suche nach möglichen Lösungen für die vielfältigen Probleme teilte sich die Gesellschaft in unterschiedliche Lager, anstatt als eine Nation und als ein Staat zu agieren. Das deutsche Kaiserreich war deshalb geprägt von Rissen und der Fragilität der Nation, die drohte in sich zusammenzufallen.
Die Kritiker der Sonderwegsthese warnten hingegen von der Loslösung der deutschen von der europäischen Geschichte oder gar einer heruntergebrochenen und vereinfachten Sichtweise auf die Anfänge des Nationalsozialismus.
Mit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung 1989 rückte die Diskussion über den deutschen Sonderweg in den Hintergrund. Zum einen argumentierten viele, dass durch die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats auch das Ende des deutschen Sonderwegs erreicht sei. Zum anderen gilt die Sonderwegsthese mittlerweile als überholt. Bereits der Begriff des „Sonderwegs“ deutet auf Wehlers Vorstellung eines „normalen/vorgeschriebenen“ Wegs zum Nationalstaat hin. Dennoch bleibt es weiterhin eine Herausforderung den Nationalsozialismus zu erklären und sein Entstehen im Zusammenhang mit tieferliegenden Ursachen, u.a. durch genauere Analyse der bismarckschen Zeit, in der Vergangenheit zu erkunden.