Der kategorische Imperativ: die wohl bekannteste Handlungsanweisung im Bereich der Moralphilosophie. Während andere Vertreter der deontologischen Ethik eher Vorschläge zu richtigen Handlungen bieten, ist Kant bei seiner Formulierung ganz deutlich. Er gibt eine Handlungsvorschrift, einen Imperativ vor, der für alle Handlungen dienen soll.
Ganz schön ambitioniert. Doch um diesen Imperativ zu verstehen ist es nötig, sich die zentralen Bedingungen der kantischen Ethik erneut vor Augen zu halten. Kant geht davon aus, dass alle Menschen vernünftige, autonome Wesen sind, die mithilfe des guten Willens handeln. Menschen sollen aus Pflicht handeln, um einen moralischen Wert aus einer Handlung ziehen zu können. Wer nach Kant pflichtwidrig handelt und das absichtlich tut, ist böse. Bosheit ist definiert als Schlechtes, hinter dem ein Wille zu erkennen ist. Das kann aber zunächst kein Mensch wollen.
Kant vertritt ein sehr aufgeklärtes Menschenbild, was bei der Betrachtung und Bewertung seiner Ethik im Hinterkopf zu behalten ist.
Sicher kennst du den folgenden Satz: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Dieses Gebot hat bereits Konfuzius (551 - 479 v.Chr.) in abgewandelter Form seinen Schülern gelehrt. Man nennt es die Goldene Regel. Grundlage dessen ist die Annahme, dass man nichts wollen kann, was man für sich selbst nicht auch wollen kann. Man möchte nicht belogen werden, also lügt man auch keine anderen Personen an. So weit, so gut.
Zwar ist in Kants Imperativen auch die Rede vom Wollen, jedoch unterscheidet sich sein kategorischer Imperativ deutlich von der Goldenen Regel. Es geht nicht nur um die individuelle Ansicht der Situation, sondern um alle Personen, zu jeder Zeit. Es geht auch nicht um etwas, was nur du nicht willst, sondern um etwas, was allgemein nicht gewollt werden kann.
Betrachten wir einmal das Beispiel des Diebstahls. Die goldene Regel würde lauten: „Ich stehle nicht, weil ich nicht bestohlen werden möchte.“. Dabei geht es nur um mich. Ich verbiete mir eine Tat, weil ich die Konsequenzen nicht selbst ertragen möchte. Im Gegensatz dazu würde die Maxime des kategorischen Imperativs lauten: „Ich darf nicht stehlen.“. In diesem Fall hast du eine Regel aufgestellt, die immer gilt, da du willst, dass sie ein allgemeines Gesetz darstellt. Der Ursprung ist nicht deine Angst, wie es ist, selbst bestohlen zu werden, sondern, dass man gar nicht wollen kann, stehlen zu dürfen.
Neben den kategorischen Imperativen gibt es bei Kant auch hypothetische Imperative. Diese Imperative, Handlungsaufforderungen, richten sich an ein Ziel. Es handelt sich bei ihnen um Konditionalsätze der Form: Wenn x, dann y. Es bedeutet, dass man ein Ziel (y) nur erreichen kann, insofern man das Vorgehen (x) befolgt. Das können Regeln der Geschicklichkeit, welche Effizienz bewirken, oder Ratschläge der Klugheit, die mit dem Streben nach Glück einhergehen, beinhalten. Es geht bei hypothetischen Imperativen nur um das Erfüllen des Ziels; die Moralität der Handlung ist zunächst zweitrangig.
Beispiel: Wenn ich lerne, werde ich die Prüfung bestehen. Oder, wenn ich genug spare, werde ich mir ein Auto kaufen können. Diese Imperative sind zum einen individuell und zum anderen zweckorientiert.
Das Gegenteil der hypothetischen Imperative stellt der kategorische Imperativ dar. Dieser Imperativ ist kategorisch, das bedeutet ausnahmslos und immer gültig und, im Gegensatz zum hypothetischen Imperativ, nicht auf ein Ziel gerichtet. Auch bei ihm handelt es sich um eine Handlungsanweisung, die in Form eines Imperativs mittels Befehlsform ausgesprochen wird. Diese Formulierung der Grundform wird von Kant als Sittengesetz bezeichnet, da es als Grundlage zur Bestimmung der Moralität einer Handlung dient. Die Grundform des kategorischen Imperativs, auch Universalgesetzformel genannt, lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.“
Um zu verstehen, was mit diesem Imperativ genau vorausgesetzt wird, ist es notwendig, die Begriffe zu verstehen. Zunächst soll Maxime erklärt werden. Maxime ist ein Leitsätz, den du dir selbst stellst. Diese Leitsätze, die gleichzeitig Handlungsregeln sind, können entweder moralisch gut, moralneutral oder moralisch schlecht sein. Moralisch gut wäre beispielsweise die Maxime „Ich darf andere nicht verletzen.“; „Ich muss vor dem Einschlafen eine Geschichte lesen.“ wäre hingegen moralneutral, da nur du im Zentrum der Handlung stehst und diese Handlung weder als moralisch gut oder schlecht eingeordnet werden kann. Moralisch schlecht wäre beispielsweise die Maxime „Ich darf stehlen.“, da du einerseits nicht wollen kannst, dass sich alle so verhalten und es andererseits keine gute Handlung ist.
Im Fall des kategorischen Imperatives stellst du dir Regeln auf (Gebote oder Verbote), nach denen zunächst nur du handeln willst. An dieser Stelle kommen wir zum zweiten Teil der Formulierung: „[…] durch die du zugleich wollen kannst, […]“. Du musst die Maxime umsetzen wollen und gleichzeitig wollen, dass auch alle anderen Menschen nach diesem Gebot oder Verbot (Prinzip) handeln. Das allgemeine Gesetz, das Kant hier anspricht, deutet auf die ausnahmslose Geltung des Imperativs hin. Alle Menschen haben sich dann, wie ein allgemeines Gesetz, an die Handlungsaufforderung zu halten.
Kant stellt seinen kategorischen Imperativ auf, um somit die Moralität von Handlungen sicherzustellen. Denn wenn man sich selbst eine Maxime stellt, die anschließend für alle gelten soll, so sollte diese moralisch richtig sein, sonst wäre der Imperativ kein kategorischer. Das bedeutet, man muss von der Handlungsanweisung zugleich wollen können, dass sie für andere Personen zum allgemeinen Gesetz wird. Bei diesen Handlungen geht es besonders um die Moralität. Dementsprechend gehören hypothetische Imperative hier nicht dazu.
Nun folgt ein bekanntes Beispiel zur Verdeutlichung, das auch Kant verwendet: Der Axtmörder. Stell dir vor, dass sich einer deiner Freunde in deinem Haus auf der Flucht vor einem Axtmörder versteckt. Du hast dir als Maxime gesetzt: „Ich darf nicht lügen“. Nun klopft es an der Tür und du machst auf. Ein Mann mit einer Axt steht aufgebracht vor dir und sucht nach deinem Freund. Sagst du dem Mann nun, dass sich dein Freund in deinem Haus versteckt? Intuitiv würdest du wahrscheinlich nein sagen, um deinen Freund zu retten. Wenn es nach Kant geht, sagst du ja! Da du dir die Maxime selbst auferlegt hast, musst du dich ausnahmslos daran halten. Denn „Du sollst nicht lügen“ sollte für jeden anderen Menschen als allgemeines Gesetz gelten. Somit ist es dir nicht gestattet, zu lügen; auch wenn dadurch dein Freund ermordet wird. An diesem Punkt könnte man noch Parallelen zur Goldenen Regel finden. „Ich möchte nicht belogen werden, also lüge ich nicht.“ wäre die Formulierung für dieses Beispiel. Doch mittels eines anderen Beispiels wird deutlicher, weshalb sich die beiden Sollenssätze unterscheiden. Angenommen du leihst dir von einem guten Freund ein Buch aus. Versehentlich bleibst du an einer Seite hängen und reißt sie heraus. Sagst du deinem Freund nun, dass du das Buch beschädigt hast oder nicht?
Nach der goldenen Regel würdest du wie folgt argumentieren: Wenn du deinem Freund ein Buch ausgeliehen hättest, würdest du auch wollen, dass er dich über die Beschädigung informiert. Die Argumentation beim kategorischen Imperativ würde allerdings so lauten: Möchtest du, dass alle anderen Menschen, die versehentlich etwas beschädigen, was sie ausgeliehen haben, ihren Fehler verheimlichen? Die Antwort lautet selbstverständlich nein, da sonst niemand mehr auf ausgeliehene Dinge aufpassen und dann darüber lügen würde; und das kann keiner wollen.
Wie du siehst, ähneln sich die Goldene Regel und der kategorische Imperativ, aber sie unterscheiden sich bezüglich ihrer Geltung. Der kategorische Imperativ ist die allgemeinste Form einer Handlungsanweisung, welcher diese Anweisung auf alle anderen Menschen überträgt. Dementsprechend sind solche Maximen wie „Du darfst nicht lügen.“ oder „Du darfst nicht töten.“ immer und für alle gültig.
Um nun eine Handlung auf ihre Moralität zu prüfen, stellst du einen kategorischen Imperativ auf. Wenn nun denkbar ist, dass dieser für alle ein allgemeines Gesetz werden sollte, dann ist die Handlung moralisch. Falls nicht, dann handelt es sich entweder um eine unmoralische Handlung oder eine Handlungsanweisung, die auf ein Ziel gerichtet ist und deren Moralität nicht eingeschätzt werden kann. Daraus ergibt sich der folgende Leitfaden:
Die nachfolgende Tabelle konkretisiert diesen Leitfaden:
Handlung klar definieren, moralische Dilemma herausfinden. | Handlung |
Welche Regel hilft dir, eine moralische Entscheidung zu treffen? | Maxime |
Zur Beurteilung dieser Maxime stellst du dir sie als allgemeines Gesetz vor, das immer für alle Menschen gelten würde. | Allgemeines Gesetz |
Würdest du das, was sich daraus ergibt, wollen können? | Kann ich das wollen? |
Überlege erneut genau, ob es sich bei der Maxime um eine allgemeine Regel handelt und ob diese für alle Menschen gelten soll. | Kann das jeder Mensch wollen? |
Wenn du nun zur Antwort ja kommst, ist die Maxime moralisch vertretbar und kann als kategorischer Imperativ formuliert werden. | Ja, moralisch vertretbar |
Solltest du zur Antwort nein kommen, solltest du die Wahl deiner Maxime überdenken. Vielleicht war diese nicht allgemein genug oder irrelevant für die Beurteilung deiner Handlung. | Nein, moralisch nicht vertretbar |