Wie du zur „Grundform des kategorischen Imperativs“ erfahren hast, ist die Selbstzweckformel fundamental für die Würde des Menschen. Du kennst sicher den ersten Artikel aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Diese Grundsätze sind unter anderem auf Kants Vorstellung von der Menschenwürde zurückzuführen. Hervorgehoben ist in diesen Paragrafen des Grundgesetzes besonders, dass die Menschenwürde an oberster Stelle steht und immer zu achten ist. Wie bereits im Kapitel zur Menschheitszweckformel angesprochen, unterscheidet Kant zwischen dem Preis und der Würde. Da man Menschen allerdings nicht gegen einen Preis aufwiegen kann, haben wir alle eine unveränderliche Würde. Preise sind im Gegensatz zur Würde zweckgebunden und beziehen sich immer auf ein Gut (Ware). Die Würde hingegen richtet sich auf keinen bestimmten Zweck, sondern sie ist, durch die Gesinnung zur Wahrung des inneren Werts einer Person, ein Zweck an sich.
Menschen setzen sich selbst Gesetze, da sie autonome Wesen sind, was gleichzeitig bedeutet, dass sie aus freiem Willen Gesetze aufstellen. Diesen freien Willen kann der Mensch nicht verlieren, auch wenn er äußerlich unfrei ist. Stell dir hierfür einen Sklaven vor. Dieser Sklave hat zu gehorchen und ist äußerlich unfrei. Er kann sich nicht eigenständig aus der Situation entziehen und muss sich fügen. Im Gegensatz zum Tier kann der Mensch entgegen seinen Trieben handeln und sich eigene Gesetze aufstellen, was bedeutet, dass er einen freien Willen besitzt. So hat der Sklave trotz körperlicher Unfreiheit, die Möglichkeit, uneingeschränkt zu denken.
Seine Gedanken und damit sein Wille sind frei, da er sich auch in Gefangenschaft noch immer selbst Gesetzte aufstellen kann, auch wenn er sie nicht umgehend umsetzen kann. Er kann sich noch immer Maximen aufstellen. Durch diese Autonomie wird seine Würde begründet. Diese Selbstgesetzgebung ist Voraussetzung für die Würde, die ursprünglich aus reiner Vernunft hergeleitet wird. Somit hat der Sklave noch immer eine Würde, die ihm nicht genommen werden kann. Sie kann lediglich ungeachtet bleiben und verletzt werden; aber verlieren kann er sie nicht. Aus der Würde leitet sich, wie auch in den genannten Paragrafen des Grundgesetzes genannt, der Anspruch und die Verpflichtung zur Achtung der Würde anderer her. Dieser Aspekt bezieht sich sowohl auf die Würde anderer Menschen als auch auf die eigene Würde. Mit dem unteren Schaubild kannst du nachvollziehen, woher die Würde eigentlich kommt.
Wie alle Theorien bei Kant hat auch die Würde ihren Ursprung in der reinen Vernunft, welche die Grundlage für die Autonomie im Sinne der Freiheit bildet. Die Vernunft bietet zudem den Antrieb für die Selbstgesetzgebung, welche dann die Voraussetzung für einen Würdebegriff darstellt. Die Würde unterschiedet sich vom Preis in ihrem absoluten Wert, woraus sowohl ein Anspruch auf Würde als auch die Verpflichtung zur Achtung dieser entsteht. Um zu überprüfen, ob du Kants Verständnis von Würde nachvollzogen hast, folgen Beispiele, bei denen du entscheiden sollst, welche Handlungsoption zu wählen ist und warum.
Beispiel 1:
Stell dir vor, dein Nachbar ist unglücklich in seinem Leben. Er hat zwar alles was er zum Leben braucht, trotzdem ist er sehr unglücklich und kann diesem Unglück nicht entfliehen. Er nimmt sich nun vor, sich das Leben zu nehmen. Wie würde Kant diese Situation bewerten? Bevor du zur Antwort springst, nimm dir einen Moment Zeit und überlege, welche Dimensionen in dieser Situation eine Rolle spielen.
Antwort:
Zunächst ist es problematisch, dass die besagte Person den eigenen Körper als Mittel zur Glückseligkeit versteht; als hätte der Körper lediglich die Aufgabe, Glückseligkeit zu erlangen. Aus dieser Betrachtung hat der Körper keinen Zweck an sich mehr, sondern ist alleiniges Mittel. Dazu kommt, dass die Person die Glückseligkeit und damit einen relativen Wert dem Selbstzweck und damit dem absoluten Wert vorzieht und somit den Körper als Mittel nutzt, um einer schlechten Situation zu entfliehen. Dem absoluten Wert (Selbstzweck) wird ein relativer Wert (Glückseligkeit) vorgezogen, was nach Kant unmoralisch wäre. Der Suizid wäre außerdem reines Mittel der Befriedigung. Dementsprechend ist Suizid unter den angegebenen Umständen entgegen der Würde und Kant würde dies ablehnen.
Auch dem Thema operative Eingriffe steht Kant eher kritisch entgegen, da er nur das Entfernen von ungesunden oder bereits abgestorbenen Teilen des Körpers als moralisch vertretbar einordnen würde. Dabei ist es beispielsweise in Ordnung, nach einem Unfall ein nicht mehr funktionierendes Körperteil zu entfernen, um zu überleben. Es wäre allerdings unmoralisch, sich etwas Gesundes vom Körper entfernen zu lassen, wie beispielsweise bei Schönheitsoperationen.
Beispiel 2:
Stell dir vor, dass du momentan nicht genug Geld hast, um ein Geburtstagsgeschenk für deine Mutter zu kaufen. Nun kommst du auf die Idee, einen Freund oder eine Freundin, um das benötigte Geld zu fragen. Du versprichst, das Geld zurückzugeben, obwohl du bereits weißt, dass du eigentlich kein Geld auftreiben und die Schulden somit nicht begleichen kannst. Dennoch nimmst du das Geld an und kaufst das Geschenk. Wie würdest du diese Situation vor dem Hintergrund der kantischen Ethik beurteilen?
Antwort:
Zunächst einmal würdest du mit deinem falschen Versprechen die Würde der anderen Person verletzen, da du deren Wohlwollen nicht wahrst und du die Person, obwohl sie so freundlich war, belügst. Du lügst absichtlich, da du bereits weißt, dass du das Geld nicht zurückzahlen kannst. Wenn wir an den kategorischen Imperativ denken, der uns als Handlungsanweisung dienen soll, müssten wir von einem Imperativ ausgehen, der wie folgt lautet: „Wenn ich mir Geld ausleihe, verspreche ich es zurückzugeben.“ In diesem Fall würdest du gegen das allgemeine Gesetz verstoßen. Wenn du dir aber einen Imperativ aufstellst, der folgendermaßen lautet: „Wenn ich mir Geld ausleihe, verspreche ich es zurückzugeben, obwohl ich das Versprechen nicht einhalten werde“, hast du einen ungültigen Imperativ erschaffen. du musst prüfen, ob dieser Imperativ ein allgemeines Gesetz werden könnte. Die Konsequenz wäre, dass alle ein falsches Versprechen geben dürften, was selbstverständlich nicht erstrebenswert und gleichzeitig unmoralisch ist. Dementsprechend stellt Kant klar das Verbot des falschen Versprechens auf.
Beispiel 3:
Stell dir vor, dass du als Kind sehr viel Klavierunterricht genommen und immer viel geübt hast. Nun bist du älter geworden, deine Interessen haben sich verändert und du hörst vollständig mit dem Üben und dem Unterricht auf. Du verlernst nach und nach immer mehr von deinen Fähigkeiten. Was passiert in diesem Fall mit deiner Würde?
Antwort:
Kant würde bei diesem Beispiel deutlich sagen, dass auch dieses Verhalten entgegen der Würde ist. Er geht davon aus, dass der Mensch seine Fähigkeiten ausbilden soll, um der Gesellschaft zu nutzen. Wenn du dich aus Bequemlichkeit deinem Vergnügen hingibst und dafür deine Fähigkeiten vernachlässigst, bedeutet dies eine Verletzung der Würde. Kant sieht in der Bequemlichkeit einen Widerspruch im Wollen. Er geht davon aus, dass man gar nicht wollen kann, seine Fähigkeiten zu vernachlässigen und sich nur seinem Vergnügen hinzugeben. Daher stellt er das Gebot der Kultivierung der eigenen Anlagen auf. Der einzige Unterschied, der dieses Beispiel von den vorherigen Beispielen abhebt, ist die Tatsache, dass die Persönlichkeit in diesem Szenario nicht verletzt wird. Dennoch stellt es einen Verstoß dar und kann nicht gewollt werden.
Festzuhalten ist, dass die Würde eines Menschen nach Kants Vorstellungen niemals verschwinden kann, auch wenn dieser Mensch äußerlich unfrei ist. Hinzu kommt, dass wir alle dazu verpflichtet sind, die eigene sowie die Würde eines jeden anderen zu achten und dafür bei Verstößen einzustehen. Abgeleitet wird die Würde aus der Autonomie und dem freien Willen, vor dem Hintergrund der Vernunft. Der Wille und damit die Würde ist zu achten, indem wir Menschen Wohlwollen entgegenbringen und unsere Versprechen halten. Darüber hinaus besteht das Instrumentalisierungsverbot, sowohl in Zusammenhang mit der Selbstzweckformel als auch mit der Würde eines jeden Menschen, was ein Ausnutzen ausschließt.