Die Menschenwürde ist das Wichtigste, was wir im Leben haben. Wie auch im Grundgesetz steht, ist sie unantastbar und kann uns von niemandem genommen werden. Da dieser Begriff der Würde so entscheidend für unser Selbstbild und unser Verständnis von Gesellschaft ist und sich im Laufe der Zeit sehr verändert hat, schaust du dir in diesem Kapitel verschiedene Positionen und Herleitungen zu diesem Begriff an.
Der Renaissance-Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) macht auf den Würde-Begriff aufmerksam. In seinem Werk „De Dignitate Hominis“ (1496), was übersetzt „Über die Würde des Menschen“ bedeutet, legt er dar, inwieweit sich der Mensch zur Natur und Gott verhält. Seine Konzeption der Würde beruht auf dem Gedanken, dass der Mensch zwar von Gott in die Mitte der Welt gesetzt wurde, jedoch seine Würde auf seiner schöpferischen Freiheit beruhe. Der Mensch kann sich kreativ ausleben und besitzt eine Selbstmächtigkeit. Menschen sind nicht durch eine vorgegebene Form beeinträchtigt, sondern sind fähig, selbstbestimmt zu entscheiden, wie sie sich entfalten wollen. Folglich ist die freie Entfaltung durch Einhalten der vorgeschriebenen Gesetze der Natur Grundlage der Menschenwürde. Der freie Wille und die daraus resultierende Selbstbestimmung gilt für Mirandola als Ursprung der Würde des Menschen.
Nach Kant bedeute die Würde des Menschen gleichzeitig auch die Achtung fürs Gesetz – das moralische Sittengesetz (vgl. Kapitel „Menschwürde nach Kant“). Durch die Maximen, die wir uns selbst aufstellen können, erschaffen wir eine Gesetzgebung, der wir einerseits unterworfen sind, die uns andererseits auch schützen soll. Da alle Menschen eigene Maximen aufstellen, die gleichzeitig dem Sittengesetz unterworfen sind, unterliegen diese Maximen moralischen Werten. Somit sind wir von unmoralischen Handlungen – in der Theorie – befreit. Der moralische Wert der Maximen richtet sich immer an die Allgemeinheit. Durch Kants Menschheitszweckformel wird dem Menschen, der „niemals bloß als Mittel, sondern zugleich immer als Zweck“ (Menschheitszweckformel) zu behandeln ist, der absolute Wert, die Würde zugeschrieben. Diese Würdevorstellung ist grundlegend für unser heutiges Verständnis.
Der zeitgenössische Philosoph Dieter Birnbacher (geb. 1946) hat ebenfalls eine Vorstellung von Menschenwürde erschaffen, die er als Ordnungsprinzip beschreibt. Würde sei nach Birnbacher ein Minimum an Rechten, das jedem Menschen zukommt und welches unabhängig von Leistungen, Verdiensten oder Qualitäten zu verstehen ist. Dies bedeutet, dass jeder eine Würde besitzt, egal ob seine Leistungen über- oder unterdurchschnittlich sind, die Person sich freiwillig engagiert oder nicht besonders freundlich ist.
Birnbacher stellt das Menschenwürdeprinzip auf, was er als Abwehr- und Anspruchsrecht versteht. Dabei geht es einerseits um die Abwehr von negativen Konsequenzen und andererseits um den Anspruch auf positive Konsequenzen. Birnbacher nennt hierzu vier Aspekte, die in dieses Prinzip fallen:
Erstens die Versorgung mit notwendigen Existenzmitteln. Dazu gehört neben Nahrung und Mitteln zum täglichen Leben auch ein Lebensraum, in dem gelebt werden kann.
Zweitens die Freiheit von Schmerz. Dazu zählt beispielswiese der Schutz vor Folter und die grundsätzlich eltende körperliche Unversehrtheit.
Drittens folgt die minimale Freiheit. Darunter wird in Grundzügen ein freies Leben verstanden, in dem es jeder Person möglich sein sollte, freie Entscheidungen zu treffen und nicht willkürlichen Entscheidungen zu unterliegen.
Als vierter Aspekt wird die minimale Selbstachtung aufgeführt. Diese richtet sich – im Gegensatz zu den anderen Aspekten – allein an jedes Individuum und den Umgang mit sich selbst. Jeder Mensch sollte sich dementsprechend selbst achten, ganz gleich welche Kompetenzen er mitbringt oder welche Leistungen er vollbracht hat.
Nach Birnbacher haben Menschen das Recht zu einer Grundversorgung und zur Freiheit von Willkür und Schmerz. Diese Vorstellung erinnert stark an die kantische Differenzierung von positiver und negativer Freiheit (vgl. Kapitel „Grundlagen der kantischen Ethik“). Birnbacher geht gleichzeitig von einem Minimalstandard der Zumutbarkeit aus, der sowohl aktiv als auch passiv gilt. Darunter ist zu verstehen, dass wir Handlungen unterscheiden, die wir anderen Menschen noch zumuten können, und die uns selbst zugemutet werden können. Menschenwürde funktioniert in jedem Fall in beide Richtungen; wir schützen unsere und die Würde anderer. Die Zumutbarkeit dient zur Einordnung von Handlungen; also konkret: Kann ich einem Menschen das zumuten oder würde dies seine Würde verletzen?
Birnbacher thematisiert zudem auch Ausnahmesituationen, in welchen es schwierig sein könnte, alle vier Aspekte einzuhalten. Dabei stellt er die unabhängigen Güter in eine Rangordnung. Es wird in diesem Fall zu einer Abwägung zwischen Gütern und Rechten innerhalb der Sphäre unter Katastrophenbedingungen kommen. Wichtig ist jedoch, dass es nie zu einer Abwägung der Grundgüter kommen kann. Stell dir vor, dass du in einem Gebiet wohnst, welches von Naturkatastrophen betroffen ist. Nun kommt es zu massiven Überschwemmungen und du musst dein Haus verlassen. Um in Sicherheit zu sein, begibst du dich mit vielen weiteren Menschen in eine gesicherte Turnhalle, damit du dort von Rettungskräften und freiwilligen Helfern versorgt wirst. Du bekommst Nahrung und kannst die Nacht in dieser Halle schlafen. Es ist dir aufgrund der draußen herrschenden Bedingungen allerdings nicht mehr erlaubt, diese Halle zu verlassen, da deine Sicherheit sonst nicht mehr gewährleistet werden kann. In diesem Fall wird deine Freiheit zeitweise eingeschränkt, um dich vor Schmerzen zu bewahren. Da du vor Ort mit allen wichtigen Grundgütern versorgt wirst, ist es in Ordnung, zu deinem Schutz darauf zu bestehen, diesen Ort nicht verlassen zu dürfen.
Zusammenfassend hat laut Birnbacher jeder Mensch ein Abwehr- und Anspruchsrecht (Menschenwürdeprinzip). Grundlegend für die Entscheidung, welche Handlungen mit der Menschenwürde zu vereinbaren sind, ist die Zumutbarkeit, aktiv sowie passiv. In der Rangordnung der vier genannten Aspekte ist die Versorgung mit notwendigen Existenzmitteln an oberster Stelle, dicht gefolgt von Freiheit von Schmerz und der minimalen Freiheit. Letztlich bleibt noch die minimale Selbstachtung, welche auch notwendig ist, um die Menschenwürde zu achten. Diese ist allerdings im Vergleich zu den anderen Aspekten nicht am relevantesten.
Martha Nussbaum (geb. 1947), welche die Frage nach dem guten Leben (Aristotelik) erforscht, erstellt eine Liste der menschlichen Grundfähigkeiten, die zu einem Konzept von Würde führt. Grundannahme ist dabei, dass uns substanzielle Eigenschaften fehlen und daher kein gutes menschliches Leben ermöglicht wird. Sie hält es allerdings für notwendig, wichtige Funktionen des menschlichen Lebens zu definieren, um beispielsweise zu hinterfragen, wie sich politische und soziale Institutionen auf die Funktionen auswirken. Dabei soll die Liste an Fähigkeiten keineswegs abgeschlossen sein, sondern immer erweitert werden können. Grundlegend ist jedoch, dass wir Personen unabhängig von Unterschieden als Menschen anerkennen. Zudem gibt es Eigenschaften, deren Abwesenheit das Ende der Menschheit bedeuten würde, worunter beispielsweise das Wesensmerkmal Verbundenheit mit anderen Menschen verstanden wird. Allgemein stellt diese Liste einen Umriss für transkulturelle Annäherung dar, sodass sich alle Menschen, unabhängig von Kultur und Lebensraum, damit identifizieren können. Die Liste der menschlichen Grundfähigkeiten entspricht einer Minimalkonzeption an Merkmalen und beinhaltet einen Entscheidungsspielraum, inwieweit wir uns mit einzelnen Aspekten identifizieren. Sie ist in Wesensmerkmale, die alle Menschen besitzen, und in Grundbefähigungen unterteilt. Die Liste ist wie folgt aufgebaut:
Wesensmerkmale: Sterblichkeit, Körperlichkeit, Freude und Schmerz, Sinne, Vorstellung und Denken, Frühkindliche Entwicklung, Praktische Vernunft, Verbundenheit mit anderen Menschen, Verbundenheit mit anderen Arten und der Natur, Humor und Spiel, Getrenntsein, starkes Getrenntsein, …
Grundbefähigungen: Leben, körperliche Integrität, Gefühlserfahrungen, kognitive Fähigkeiten, Vertrauen, Vorstellung des Guten, Sozialität, ökologische Verbundenheit, Freizeitgestaltung, Vereinzelung, starke Vereinzelung, …
Diese Auflistung soll helfen, sich zu vergegenwärtigen, dass wir alle die gleichen Voraussetzungen haben und alle dieselbe Würde verdienen. Gerade beim Thema Würde wird häufig das Thema Sterbehilfe angeführt. Dabei gibt es zwei Pole. Der Contra-Pol geht davon aus, dass Sterbehilfe auf keinen Fall mit der Würde zu vereinbaren ist, da Ärzte im Fall der Sterbehilfe über die Würde eines Patienten verfügen und gleichzeitig die menschliche Integrität antasten würden. Sie gehen davon aus, dass keiner über die Würde verfügen darf und die Würde uneingeschränkt zu achten ist. Der Pro-Pol hingegen sieht in der Autonomie den wichtigsten Bestandteil der Würde und ist der Meinung, dass jeder Mensch das Recht auf den eigenen Tod hat. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Tod in Würde gewahrt werden muss und die Umstände so respektvoll wie nur möglich gestaltet werden (vgl. Kapitel „Medizinethik am Lebensende“).
Eine Entscheidung darüber, welche Position Recht hat, ist nur schwierig zu treffen. Die Argumente beider Seiten sind schlüssig. An oberster Stelle soll immer die Würde jeder einzelnen Person stehen, ganz gleich ob lebendig oder tot.
Der Begriff der Würde hat sich im Verlauf der Zeit deutlich verändert und wurde immer weiterentwickelt. Von der Selbstbestimmung bei Mirandola, über die Menschheitszweckformel bei Kant, hin zur minimalen Freiheit und Selbstbestimmung bei Birnbacher und einer Liste mit vielen Wesensmerkmalen und Grundfähigkeiten wird der Würdebegriff immer weiter spezifiziert und detailreicher definiert. Somit landen wir heute bei einem mehrdimensionalen, sehr komplexen Begriff der Menschenwürde. Dieses Konzept der Würde bildet die Grundlage für unser Menschenbild und das rechtliche Gerüst, wodurch es immer zu wahren ist.
Für dieses Kapitel ist die Unterscheidung der verschiedenen Ansätze und Interpretationen der Würde wichtig. Besonders Kant, Birnbacher und Nussbaum haben wichtige Ansätze, die du unbedingt unterscheiden solltest. Mirandola ist, was das Thema Freiheit und Selbstbestimmung angeht, mit Kants Vorstellungen von Selbstbestimmung zu vergleichen. Achte aber besonders auf die zeitlichen Unterschiede. Abschließend solltest du ein kombiniertes Verständnis davon erlangen, was Würde bedeuten kann, in welchen Fällen Schwierigkeiten auftreten können (vgl. Birnbacher) und warum sie für uns von enormer Bedeutung ist. Das Thema „Würde“ wird im Abitur häufig mit den Themen Utilitarismus, Medizinethik, Gerechtigkeit und Strafe kombiniert.
Selbstbestimmung | Jeder Mensch kann nach eigenem Ermessen handeln und sich frei entfalten. |
Menschenwürdeprinzip | Abwehr- und Anspruchsrecht |
Minimalstandard | Ein Mindestmaß an Rechten, die einem Menschen zustehen. |
Wesensmerkmale | Merkmale, die Menschlichkeit ausmachen. |
Grundbefähigungen | Fähigkeiten, die jeder Mensch ausführen kann. |
Würde | Eine Eigenschaft (unveränderlicher Zustand), die jedem Menschen von Geburt an gegeben ist. |