Einer der bedeutendsten Rechtsphilosophen des 20.Jahrhunderts war Gustav Radbruch (1878-1949). In der Zeit der Weimarer Republik war er Hochschullehrer und sozialdemokratischer Justizminister. Schon früh vertrat er rechtspositivistische Positionen. Im Dritten Reich veranlasste ihn die als unerträglich empfundene Rechtsprechung, den Begriff des „unrichtigen Rechts“ einzuführen. In diesem Zusammenhang wurde die „Radbruch´sche Formel“ (1945) geprägt. Diese lautet:
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“
Doch was bedeutet das eigentlich?
Für Radbruch sind Recht und Moral streng voneinander zu trennen. Dabei ist Recht nur das positiv gesetzte Recht, das durch die Moral nicht korrigiert werden dürfe. Moralvorstellungen können sich durch die Gesellschaft selbst ändern. Zudem kann Moral in kontroversen Situationen schnell spannungsvoll aufgeladen sein. Eine Beeinflussung von rechtlichen Entscheidungen darf nicht geschehen. Daher gebe es kein höherrangiges Naturrecht, das als Maßstab für das positive Recht dienen könne.
In diesem Zusammenhang formulierte Radbruch seine Formel, bei der Gerechtigkeit durch Gleichheit zu charakterisieren sei. In dem Moment, wenn Gleichheit unter Menschen und Menschenwürde nicht mehr angestrebt würden, sondern Verhinderung bzw. Leugnung herrschen, könne man nicht mehr von Gerechtigkeit und Recht sprechen.
Radbruch legt mit seiner Formel Wert auf folgende Bereiche: Rechte sollten einen Status quo festlegen, da es relevant ist, dass Regeln an sich existieren. Sie dienen als Orientierungspunkt für jeden einzelnen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass jeder einen Anspruch darauf hat, sein Recht zu bekommen. Recht legt somit fest, was gerecht ist. Problematisch ist hierbei, dass Gerechtigkeit oft eine subjektive Einschätzung ist und mit anderen Ansprüchen in Konflikt geraten kann. Es bedarf objektiver Vernunftgründe, um zu rechtfertigen, welche Personen innerhalb eines Staates regieren dürfen. Dabei haben zunächst die Herrschenden ein Recht darauf, zu regieren. Das ausgeführte Herrschen, also die Anwendung des Rechts, kann jedoch auch asozial und unmoralisch sein. Konsequenz dessen ist eine Kontrollebene durch anderen Instanzen und Personen eines Staates, die sicherstellen sollen, dass nur diejenigen Gesetze erlassen werden bzw. aktiv sind, die auch vom Herrschenden auf sich selbst angewandt Akzeptanz finden. Nur so entsteht Gerechtigkeit. Sobald diese Voraussetzungen nicht mehr existieren, also die Gleichheit der Menschen und die Gleichheit der menschlichen Würde nicht mehr angestrebt oder gar geleugnet werde, schaffen Herrschende keine Gerechtigkeit mehr und entziehen sich der Rechtsgrundlage. Dies wird als unrechtes Recht interpretiert, gegen das es sich zu wehren gilt.
Diese Formel wurde vom Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof schon mehrfach angewandt. Vor allem während der Aufarbeitung der Nazidiktatur diente Radbruchs Formel, um aufzuzeigen, dass sich die Täter nicht mit Aussagen, wie: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!“ entziehen konnten. Radbruchs Gerechtigkeitsverständnis soll anhand seines Werkes „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“ (1945) zusammenfassend erläutert werden.
Erkennt man an, dass nur positives Recht (Befehl ist Befehl, Gesetz ist Gesetz) Gesetze legitimieren kann, so werden Juristen wie das Volk wehrlos gemacht „gegen noch so willkürliche, noch so grausame, noch so verbrecherische Gesetze“ (Gustav Radbruch: Fünf Minuten Rechtsphilosophie). Recht setzt, wer die Macht dazu hat. Erkennt man aber neben einer „positiven Gesetzgebung“ einen übergeordneten Maßstab für die Güte von Gesetzen an, so erfordert gutes Recht mindestens Folgendes: „ohne Ansehen der Person richten, an gleichem Maß alle messen.“ Da, wo das in starkem Maße nicht der Fall ist, muss das Volk den Gesetzen nicht gehorchen und Juristen müssen, nach Radbruch, „den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen.“
Klar ist hierbei die eigentliche Aufgabe von Juristen, die in ihrer Funktion dem Rechtssystem ihres Staates zur Treue verpflichtet sind. Doch wie lässt sich diese Rechtstreue in Gerechtigkeitsproblemen bzw. „unrichtigem Recht“(-sempfinden) lösen? Die Beurteilung von Fällen erfolgt nach bestehender Gesetzeslage. Eine alternative Beurteilungsgrundlage existiert für Juristen nicht. Kommen Juristen in die Lage, dass sie ein Gesetz als unerträglich ungerecht empfinden, können sie sich, wie jeder andere Bürger auch, dem Gesetz entziehen, indem Widerstand geleistet wird. Dieser Aspekt ist besonders wichtig! Wir alle sind zur stetigen Überprüfung der geltenden Rechtsnorm aufgefordert, so Radbruch – vor allem die Mächtigen. Wird kein Widerstand geleistet und das "unrechte" System weiter unterstützt, sind wir passive Befürworter und müssen uns eventuell späteren Regierungen gegenüber verantworten, warum wir nicht selbstständig aktiv gehandelt haben. Konsequenz kann dann ein zur Rechenschaftziehen sein.
Radbruchs Sicht aus oder Meinung über den Rechtspositivismus lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Jedes positive Recht besitzt einen Wert – besser ein Gesetz als keines. Vor der Zweckmäßigkeit des Rechts steht die Forderung nach Gerechtigkeit, die dem Gemeinwohl dient. Manchmal fallen scheinbare Gerechtigkeit (vom Gesetz gefordert) und wirkliche Gerechtigkeit (durch Nachdenken) auseinander. Das ist soweit normal und im Sinne der Zweckmäßigkeit des Rechts hinnehmbar. Wo aber die Kluft ein unerträgliches Maß erreicht, muss „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit weichen. Widerstand wird zur Pflicht.