Tugendhaftes Verhalten: ein antiker Begriff in der Moderne? Der Begriff der Tugend (griechisch „arete“) ist vielschichtig gedacht. Man versteht darunter zumeist eine hervorragende Eigenschaft oder vorbildliche Haltung. Person, die tugendhaft handelt, zeigt eine Fähigkeit auf, die von der Gesellschaft als wertvoll und erstrebenswert bezeichnet wird. Klassische Beispiele für Tugenden sind: Klugheit, Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Die Liste von tugendhaften Handlungen ist noch länger, wenn du einmal über Handlungen allgemein nachdenkst. Die heutige Moralphilosophie betrachtet den Bereich des moralisch Richtigen häufig in Zusammenhang mit der Gerechtigkeit. Aber Vorsicht: Das Wort „gerecht“ ist nicht gleichbedeutend mit „moralisch richtig“ zu verstehen. Das Moralische bezieht sich auf alle Fragen, die mit unserem Handeln gegenüber anderen zu tun haben. Nach Aristoteles sei Gerechtigkeit die gesamte Tugend, welche nicht nur einzeln, sondern auch in ihrem Handlungsbezug auf andere betrachtet werden muss.
Doch was genau fassen wir unter Gerechtigkeit zusammen? Aristoteles verweist auf eine Grundhaltung, die uns befähigt, gerecht zu handeln. Diese Fähigkeit wollen wir dann auch tatsächlich in gerechtes Handeln überführen und somit etwas Gerechtes tun. In seinem Werk „Nikomachische Ethik“ zeigt er uns auch das Gegenteil auf – ungerechtes Handeln sei demnach dann vorhanden, wenn jemand die Gesetze missachtet.
Es geht bei Gerechtigkeit um die Achtung und Einhaltung der Gesetze, wodurch ein gerechtes Miteinander entstehe. Bestehende Gesetze schaffen somit in den Bereichen, auf die sie abzielen, ein Gemeinwohl. Hieraus ergibt sich ein Gesamtbild von Gerechtigkeit: zum einen zielt Gerechtigkeit auf das Handeln des Einzelnen ab, zum anderen sorgen Gesetze für ein gerechtes Miteinander (Gemeinwohl). Dieses Zusammenspiel bezeichnet Aristoteles als „vollkommene Tugend“. Aber Vorsicht: Die Gerechtigkeit ist nicht absolut! Es kommt immer auf den Einzelnen an – wer sich entsprechend dieser Tugend verhält, handelt nicht nur an sich denkend, sondern kann diese im Kontakt mit anderen Menschen verwirklichen.
Aristoteles zeigt hier verschiedene Formen von Gerechtigkeit auf. Die austeilende Gerechtigkeit zielt auf die Frage ab, wie ein bestimmtes Gut gerecht verteilt bzw. welche Verteilungsregel angewandt werden soll. Die erste Möglichkeit (jedem das Gleiche): hier ist eine egalitäre Sicht entscheidend. Jeder bekommt genau gleich viel. Die zweite Möglichkeit (jedem das Seine): hier werden relevante Gründe untersucht, die eine ungleiche (non-egalitäre) Verteilung rechtfertigen. Gründe für eine non-egalitäre Verteilung kannst du an einer Tortenverteilung gut nachvollziehen:
Für Aristoteles greift immer zuerst das egalitäre Prinzip – gleiche Verteilung ist die gerechte, wenn es nicht Gründe gibt, die gegen sie sprechen.
Die Liste für solche non-egalitären Verteilungsregularien ist durch Alltagsbeispiele aufzufüllen. Denke beispielsweise an die Vergütung von Arbeit, BAföG etc.
Gerechtigkeit wird in diesem Zusammenhang als Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst und meint, dass jemand auch gerecht urteilt und handelt, wenn er dafür nicht belohnt oder bei Ungerechtigkeit nicht dafür bestraft oder verachtet wird. Die beiden Philosophen Platon und Aristoteles sollen uns einen kleinen Überblick verschaffen: Platon sah in der Seele drei Grundkräfte wirken, nämlich die Triebe, die Energie und die Vernunft. Aus diesen Kräften leitete er Tugenden ab: Die Mäßigung bei den Trieben, die Tapferkeit oder Tatkraft bei der Energie und die Weisheit bei der Vernunft. Doch wo bleibt die Gerechtigkeit?
Diese sah Platon in einer vierten Tugend, die jede Seele benötigte, damit jede der drei Kräfte auch ihre eigene Aufgabe erfüllen konnte. Nur so könne auch eine Ordnung entstehen. Platon bezeichnete diese vier Tugenden als „Kardinaltugenden“ (lat. cardo: Türangel), wobei die Gerechtigkeit als höchste angesehen wurde. Aristoteles, den du eben schon einmal kennengelernt hast. Er verband Ethik und politisches Leben miteinander. Durch aktives Handeln können wir tugendhaft leben: Wer beispielsweise nach der Tugend der Tapferkeit handelt, der flieht nicht. Du hast bereits von Aristoteles erfahren, dass, wenn wir uns an Gesetze halten, gerecht handeln. Daraus folgt, dass wir versuchen sollen, ethischen Tugenden auszuüben, da wir somit zu Gerechten werden. Aristoteles umschrieb es ungefähr so: Derjenige handelt gerecht, der das für einen anderen Zuträgliche tut.
Handlungen gelten dann als gerecht, wenn man sie als öffentlich-politische Handlungen sieht. Dieser Fokus auf die Politik zielt auf die jeweils geltende Staatsverfassung ab – der Beste, der Herrschende, die Gemeinschaft usw. Das Gerechte entspringt also der jeweils geltenden Verfassung bzw. der Staatsorganisationen, die für die Gemeinschaft das Gute realisieren will.
Entscheidend ist, dass Gerechtigkeit eng mit politischen Maßnahmen verbunden ist, die auf die Gesamtheit und das Individuum abzielen. Fehlt eine solche Grundlage, so droht der Gesellschaft eine Gefahr. Heutzutage konzentrieren wir uns sehr stark auf uns selbst – das Individuum steht im Mittelpunkt. Das klingt erst einmal positiv, jedoch liegt hierin eine Gefahr für die Gerechtigkeit. Häufig werden Tugenden nur als Empfindung wahrgenommen. Wir sollen uns durch sie an Regeln halten. Jedoch geht hier die Verinnerlichung und Überführung in praktische Handlungen verloren. Es geht um Gerechtigkeit, die den Einzelnen und die Gesellschaft zugleich betrifft.
Mit Gerechtigkeitsfragen wirst du immer wieder aufs Neue konfrontiert: in alltäglichen Dingen oder in großen gesellschaftlichen und internationalen Zusammenhängen. So vergeben Lehrer Noten, Frauen und Männer werden für die gleiche Tätigkeit ungleich bezahlt, Regierung erhöht oder senkt Steuern, verschiedene Kulturgruppen einer Stadt wollen miteinander leben etc. Die Bandbreite von Gerechtigkeitsfragen ist groß. In einem subjektiven Sinn meint Gerechtigkeit Verhalten oder auch die ethische Grundhaltung, die man mitbringt (wir handeln gerecht oder ungerecht). Neben dieser personalen Gerechtigkeit gibt es noch die im objektiven Sinn. Hierunter ist Gerechtigkeit als Verfasstheit von Staat, Recht und Politik zu verstehen (wird auch institutionelle Gerechtigkeit genannt).
Der Philosoph Otfried Höffe (geb. 1943) sieht die Menschheit als eine Gerechtigkeitsgemeinschaft an. Doch was will er damit sagen? Schon in der Frühzeit der Menschen war eines der zentralen Ziele für Gemeinschaften und Gruppen die Gerechtigkeit. Auch wenn verschiedene Ausprägungen von Gerechtigkeit existieren, so haben sie dennoch einen gemeinsamen Kern. Dabei geht es einerseits um eine unparteiische Regelanwendung und andererseits um eine geeignete Regelfestsetzung für unsere Lebensbereiche.
Der Blick auf eine Gesellschaft zeigt jedoch auch Schwierigkeiten auf. Wir betrachten immer wieder einzelne Gesellschaften – die global gedachte Menschheit stellt eine Hürde dar, weil wir unterschiedliche Moralvorstellungen in den Gruppen wiederfinden. Moral entsteht und wird durch gesellschaftliche Prozesse verändert. Das ist zumeist ein Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Dass wir jedoch immer auf andere Gesellschaftsgruppen treffen, wird dir sicherlich durch den Unterschied von Ländern auffallen. Nimmt man ein Extrembeispiel wie die Todesstrafe, so wird schnell deutlich, dass wir in Europa dies nicht mit unseren Werten vereinbaren können. In einigen Staaten der USA sieht das jedoch ganz anders aus – global können wir also keinen Moralethos ansetzen und verallgemeinern.
Höffe macht uns klar, dass interkulturelle Diskurse notwendig und keinesfalls unmöglich sind, wenn es um Gerechtigkeit geht. Auch verschiedene Kulturkreise haben einen dem Menschen innewohnenden Wesenskern, der Gemeinsamkeiten erkennen lässt. Dass ein solcher kulturübergreifender Regelmechanismus möglich ist, zeigt die allgemeine Erklärung der Menschenrechte deutlich (vergleiche Kapitel „4.2 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ auf Seite23).
Auf einer abstrakten und allgemeinen Ebene fällt es uns deutlich leichter, gemeinsame Regeln festzuhalten. Wird es jedoch konkret, ist eine Konsensbildung schwierig. Ein Beispiel fällt dir sicher ein. Denke doch nur an gerechte Entlohnung. Sie wird von allen gefordert, aber die Vorstellung darüber, was gerechte Entlohnung genau heißt, ist hoffnungslos uneinheitlich. Es geht also vor allem um eine praktische Anwendung des Gerechtigkeitsgedankens.
Das folgende Gedankenexperiment zur Gerechtigkeit wird dir aus dem Unterricht bekannt sein. Lass es uns gemeinsam durchdenken:
Du hattest das große Glück, einen Flugzeugabsturz zu überleben und befindest dich jetzt auf einer einsamen Insel, irgendwo im Pazifik. Die Insel ist dicht bewaldet. Du hast schon diverse Früchte entdeckt und auch eine Quelle mit Trinkwasser. Du hast kein Handy und ob an dieser einsamen Insel in naher Zukunft ein Boot anlegen wird, ist ungewiss. Gestern hast du plötzlich Geräusche von anderen Menschen gehört, du bist also nicht allein auf dieser Insel. Es gibt noch andere Überlebende.
Das Überleben ist möglich, doch wie soll das Zusammenleben organisiert werden? Jetzt stehst du vor der Herausforderung, Fairness herzustellen.
Zentrale Überlegungen zur Strukturierung sollten in folgenden Bereichen erfolgen:
Eine Musterlösung existiert hierfür nicht. Die vier zentralen Leitfragen regen dich zum Nachdenken an. Es geht darum eine gerechte Gemeinschaft zu entwickeln, ohne Hintergedanken. Zielsetzung ist die Schaffung eines Gesellschaftsvertrags über die staatliche Ordnung.
Die dahinterstehenden Vertragstheorien können unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Im nächsten Kapitel erfährst du mehr über diese Ansätze, mit denen sich die politische Philosophie tiefgründig auseinandersetzt.