Jeremy Bentham (geb. 1748 in London und 1832 verstorben) war Jurist, Sozialreformer und Philosoph. Er galt als Fortschrittsdenker seiner Zeit und setzte sich ein für das allgemeine Wahlrecht, die Abschaffung der Todesstrafe, Tierrechte und die Freiheit, zu lieben wen man möchte. 1789 erschien sein Werk „Introduction to the Principles of Moral and Legislation”, in dem die Grundideen des Utilitarismus dargelegt werden.
Bentham ist der Auffassung, dass unser ganzes Handeln darauf ausgelegt ist, Freude zu vermehren und Leid zu verhindern. Freude und Leid sind unser Maßstab für „richtig“ und „falsch“. Somit ist das gut und nützlich, was Freude erschafft und Leid vermeidet.
Das Prinzip der Nützlichkeit ist daher darauf ausgelegt, Freude zu vermehren und Leid zu verhindern. Jede Handlung wird anhand dieses Prinzips daraufhin geprüft, ob ihre Folgen (Folgenprinzip) das Glück des Einzelnen oder der Gruppe fördern oder minimiern.
Schauen wir uns das ganze doch einmal an einem konkreten Beispiel an: Der Wandertag steht an und es wird gemeinsam im Kurs diskutiert, was gemacht werden soll. Ein Teil des Kurses ist dafür, in den Europapark zu fahren, ein anderer schlägt vor, einfach ein Theaterstück im Stadttheater zu besuchen. Nun muss man laut des Utilitarismus für beide Handlungen die Folgen, die sich für jede beteiligte Person daraus ergeben, durchspielen, um sich dann für die Handlung zu entscheiden, durch die das meiste Glück hervorgerufen wird. Dabei spielen ganz viele individuelle Aspekte eine Rolle, wie zum Beispiel wer sich den Eintritt für den Europapark leisten kann, wer keine Achterbahnen mag oder wer nicht gerne ins Theater geht.
Für diese rechnerische Überprüfung einer Handlung nach dem Nützlichkeitsprinzip hat Bentham das sogenannte hedonistische Kalkül entwickelt. Man muss für jede Person, die von der konkreten Handlung betroffen ist, ausrechnen, inwieweit Freude und Leid erschaffen werden. Die Freude und das Leid eines Einzelnen lassen sich anhand folgender Faktoren berechnen: Intensität, Dauer, Gewissheit bzw. Ungewissheit, Nähe bzw. Ferne, Folgenträchtigkeit (wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass durch die Freude andere Freude oder durch das Leid anderes Leid verursacht wird) und Reinheit (wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass auf die erste Freude Leid folgt und umgekehrt). Wenn man diese Rechnung dann auf die gesamte Gruppe anwendet, kommt noch der Faktor des Ausmaßes hinzu, also wie viele Personen von der Handlung betroffen sind.
Möchte man nun für diese Gruppe die Tendenz der Handlung bestimmen, also ob diese im Allgemeinen mehr Freude als Leid hervorruft, muss man für jede Person, die betroffen ist, eine eigene Rechnung anhand der angegebenen Faktoren durchführen. Wenn dies für jede einzelne Person gemacht wurde, wird am Ende eine Bilanz gezogen. Überwiegt die Freude, die durch diese Handlung hervorgebracht wird, ist sie gut, überwiegt das Leid, ist sie schlecht.
Spielen wir das ganze doch einmal mit unserem Wandertag-Beispiel durch. Dafür nehmen wir die Handlung, in den Europapark zu fahren, und spielen diese mit Schüler A durch.
Wir starten also bei dem Faktor der Intensität. Wir müssen uns fragen, wie intensiv die Freude oder das Leid für Schüler A ist. Sagen wir, derjenige mag Vergnügungsparks recht gerne und daher ist die Intensität seiner Freude im oberen Mittelfeld. Die Kosten sind zwar recht hoch, aber die Familie von Schüler A kann sie stemmen, daher ist die Intensität des Leids recht niedrig.
Der nächste Aspekt ist die Dauer der Freude und des Leids. Die Dauer des Leids ist nicht sehr lang, da es eine einmalige Zahlung ist, die Dauer der Freude hingegen ist länger, da auf diesem Wandertag viele tolle Erlebnisse gesammelt werden und engere Freundschaften geschlossen werden können.
Die Gewissheit beziehungsweise Ungewissheit der Freude und des Leids muss berechnet werden. Die Gewissheit des Leids ist sehr hoch, da das Geld für den Wandertag gezahlt werden muss. Die Gewissheit für die Freude ist nicht ganz so hoch. Zwar weiß SchülerA, dass er sehr gerne Achterbahn fährt, aber es kann immer etwas auf einem Wandertag passieren (Verletzung, Streit mit den Freunden), das Leid hervorruft.
Die nächsten Aspekte sind die Nähe bzw. Ferne der Freude oder des Leids, also wie schnell treten die Folgen nach der Handlung ein. In der folgenden Grafik ist ein allgemeines Beispiel aufgeführt, bei dem die Folge A der Handlung A nahe beieinander liegen, während bei Handlung B mehrere Wochen vergehen, bis die Folge eintritt.
Wenden wir dies nun auf unser Beispiel an, können wir davon ausgehen, dass sowohl bei der Freude also auch beim Leid die Folgen relativ gleichnahsind.
Betrachten wir nun die Folgenträchtigkeit der Freude oder des Leids. Die Freude kann durchaus andere Freuden hervorbringen (z.B. durch neu entstehende Freundschaften und einen besseren Klassenzusammenhalt). Das Leid kann durchaus auch weitere negative Folgen hervorrufen, indem sich Schüler A dann zum Beispiel etwas anderes nicht leisten kann, da das Geld in den Eintritt für den Park geflossen ist.
Betrachten wir nun die Reinheit der Freude und des Leids.
Durch die in unserem Beispiel ausgelöste Freude können durchaus auch negativen Folgen hervorgerufen werden. So könnten Streitigkeiten im Park entstehe, oder das lange Anstehen an den Attraktionen Leid hervorrufen. Die Freude bei Schüler A könnte daher rein oder unrein sein.
Diese Aspekte rechnet man nun zusammen und schaut, ob am Schluss die Zahl der Freude die des Leids überwiegt.
Da hier mehrere Personen betroffen sind, nämlich eine ganze Klasse (und z.B. auch die Erziehungsberechtigten und Lehrpersonen), muss also noch das Ausmaß der Handlung bestimmt werden. Man muss also diese gesamte Rechnung für alle betroffenen Personen durchführen – für beide Handlungsalternativen: Europapark oder Theaterbesuch.
Wenn man dies gemacht hat, stellt man beide Optionen einander gegenüber und schaut, bei welcher der zwei Optionen im Vergleich mehr Freude als Leid hervorgerufen wird. Für diese entscheidet man sich dann.
Da es bei Bentham also nur darauf ankommt, dass für die Mehrheit der Betroffenen einer Handlung die Folgen gut sind, wird sein Utilitarismus auch als quantitativer Utilitarismus bezeichnet.
Nachdem wir das hedonistische Kalkül gemeinsam an einem Beispiel durchgespielt haben, versuche doch einmal zu beantworten, wie Bentham die Situation in unserem Gedankenexperiment des entführten Flugzeugs beurteilen und wie er zu seinem Urteil kommen würde. Achte dabei auch auf Schwierigkeiten, die sich dir vielleicht offenbaren.
Benthams Version des Utilitarismus bietet Kritikern durchaus eine Angriffsfläche. So kann kritisiert werden, dass Bentham nicht deutlich macht, wer alles als Betroffener gilt. Gelten nur diejenigen, die direkt von der Handlung betroffen sind oder auch indirekt Betroffene? Wo wird die Grenze gezogen? Werden nur bereits Lebende gezählt oder werden auch zukünftige Generationen in die Rechnung einbezogen? Die Frage nach der Verantwortung für zukünftige Generationen findest du im Kapitel zur "Notwendigkeit einer neuen Ethik – Hans Jonas neuer Imperativ“. Aber diese kann man ja schlecht für das hedonistische Kalkül befragen, man müsste also theoretisieren, was diese antworten würden.
Hier lässt sich auch direkt der nächste Kritikpunkt finden. Je wichtiger und weitreichender eine Handlung ist, desto schwieriger wird es, für jeden Betroffenen das hedonistische Kalkül anzuwenden. Auch Entscheidungen, die unter Zeitdruck gefällt werden müssen, machen es unmöglich,das Kalkül gewissenhaft durchzuführen. Erinnern wir uns nur an unser Einstiegsbeispiel. Der Pilot hat nur wenige Minuten, vielleicht sogar nur Sekunden, um sich zu entscheiden. Er kann weder die Menschen im Stadion noch die im Flugzeug befragen und schon gar keine Rechnung aufstellen. Er muss sich jetzt entscheiden, wie er handeln soll. Und was ist mit Menschen, die eine vermeintlich schlechte Gesinnung haben, sollten diese wirklich genauso viel zählen wie alle anderen? Sollten die Freude und das Leid von Menschen, die andere unterdrücken wollen oder der Meinung sind, dass andere aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Religion oder Hautfarbe weniger Rechte haben sollten, bei einer weitreichenden Handlung wirklich gleich viel zählen? Wenn sich z.B. ein Mob darüber freut, dass jemand getötet wird, kann diese Handlung dann wirklich als gut bezeichnet werden, nur weil durch das hedonistische Kalkül die Freude der Menge das Leid des Einzelnen überwiegt?
Und sind wir wirklich nur darauf aus, so viel Freude wie möglich zu erfahren? Gibt es nicht Freuden, die mehr wert sein sollten als andere? Während Bentham diesen Angriff auf seine Theorie, die auch von ihren Kritikern gerne als „pig philosophy “ bezeichnet wurde, verneint, entwickelt John Stuart Mill Benthams Theorie weiter, indem er sich mit dieser Kritik auseinandersetzte.
Pig philosophy soll hierbei ausdrücken, dass wir nach dieser Philosophie nicht besser wären als Schweine und nur darauf aus wären, unsere niederen Triebe zu befriedigen. Wie ein Schwein, das vollkommen zufrieden damit ist, zu fressen, sich im Schlamm zu welzen und in der Sonne zu baden.