Wissenschaftliche Forschung muss sich immer wieder mit moralethischen Fragestellungen beschäftigen. Im Besonderen der Bereich der Stammzellforschung ist durch kontroverse Sichtweisen und komplexe Fragestellungen geprägt.
Stammzellforschung wirft in der ethischen Diskussion die Frage nach der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens und damit insbesondere der von Embryos auf. Es steht die Frage im Raum, ob Embryos zur Gewinnung von Stammzellen genutzt bzw. nur für diesen Zweck erzeugt werden dürfen. Eine einheitliche Antwort auf globaler Ebene existiert nicht. In Deutschland ist die Gewinnung embryonaler Stammzellen untersagt. In anderen Ländern ist es rechtlich erlaubt, dass „überzählige Embryonen“ aus Kinderwunschbehandlungen für die Forschung genutzt werden. In manchen Ländern ist die Herstellung und Zerstörung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken möglich.
Hier muss die ethische Fragestellung des Status frühen menschlichen Lebens im moralischen Sinne in den Blick genommen werden. Ab wann beginnt menschliches Leben, wo ziehen wir Grenzen? Befruchtung, Einnistung in die Gebärmutter, ein bestimmtes Entwicklungsstadium oder ab der Geburt? Es muss dabei überprüft werden, welche Ziele mit der entsprechenden Handlung in der Forschung verfolgt werden und welche Mittel dabei zum Einsatz kommen. Entscheidend ist immer wieder die Einbeziehung von Alternativen.
Die Stammzellforschung hat sich mittlerweile weit über die Grundlagenforschung hinaus entwickelt und zeigt klare Ansätze von Therapiemöglichkeiten. Umso wichtiger ist hierbei die Einbeziehung der Ethikkommissionen, ein Gremium von Ärzten, Wissenschaftlern und Laien (Männer und Frauen), die sich vor der Durchführung medizinischer Forschungsprojekte beraten und beurteilen, ob sie vom ethischen Standpunkt aus für die Gesellschaft vertretbar sind. Immer wieder ruft dieser Forschungsbereich ein Dilemma hervor. Er zwingt uns zwischen zwei moralischen Prinzipien zu entscheiden: zum einen die Pflicht, Leid zu verhindern oder zu verringern und zum anderen die Pflicht, menschliches Leben zu respektieren.
Kurze Vorbemerkung: Ein Embryo bezeichnet eine befruchtete und entwicklungsfähige Eizelle, die ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Spermium und Eizelle entsteht. Ein zentraler Diskussionspunkt ist bei dieser Frage, die ethische Abwägung von Rechten und Interessen. Bei der Forschung mit Embryonen begibt man sich in ein Spannungsfeld aus Schutzwürdigkeit von Embryonen gegen Forschungsfreiheit; Patienten-/Elternrechte gegen zukünftig geborene Kinder. In Deutschland wird immer wieder strittig diskutiert, welcher Rechtsstatus einem Embryo zukommen sollte. Auf moralethischer Ebene kommt die Statusfrage ebenso hinzu. Auf rechtlicher Ebene haben wir eine Regelung durch das Embryonenschutzgesetz. Das Embryonenschutzgesetz definiert einen Embryo als eine frühe Entwicklungsform des Menchen von der Befruchtung bis zur Einnistung in die Gebärmutter.
Die moralische Ebene ist deutlich komplexer – hier reicht die Bandbreite einer Statuszusprechung von der Befruchtung der Eizelle und somit einer frühzeitigen Menschenwürdezusprechung bis zur eher liberalen Schutzposition, bei der die fortschreitende Entwicklung eine Neubewertung fordert. Forscher und Gesellschaft allgemein müssen sich nicht nur mit dem Lebensrecht von Embryonen auseinandersetzen, sondern auch debattieren, wie wir mit erzeugtem menschlichem Leben umgehen. Diesem Pluralismus gerecht zu werden, ist Aufgabe von Gesellschaft, Staat, Rechtsprechung und Ethik.
Ein weiteres ethisches Problem muss hierbei bedacht werden. In Deutschland wird die Embryonenforschung zwar als ethisch strittig abgelehnt, jedoch greifen hiesige Forscher auf die Ergebnisse ausländischer Forschungsgruppen zu. Das ist in letzter Konsequenz nicht stimmig!
Pro | Contra |
Embryonale Stammzellen vermehren sich schnell (können fast unbegrenzt vermehrt werden und zu beliebigen Zellzahlen hochgezogen werden) | Embryonale Stammzellen werden vom Körper abgestoßen (das Immunsystem erkennt fremde Zellen und greift diese an. Daher ist der Einsatz von Medikamenten zur Unterdrückung des Immunsystems notwenig. |
Embryonale Stammzellen sind äußerst entwicklungsfähig (aus ihnen können alle Körperzellen entstehen) | Embryonale Stammzellen sind im Körper kaum kontrollierbar (jede Stammzelle muss sich im Vorfeld richtig entwickelt haben, bevor sie eingesetzt wird, da sonst das Krebsrisiko steigt) |
Genetische Defekte sind auf ein Mindestmaß begrenzt (je früher Stammzellen, desto weniger Mutationen) | Ethische Bedenken mindern Akzeptanz (menschliche Embryonen müssen für diese Zellen zerstört werden und es werden immer wieder neue Stammzelllinien benötigt) |
Zu Beginn ein kurzer Überblick über die Entwicklungsstadien:
1. Tag | 12. Tag | 18. Woche | 40. Woche |
Befruchtung der Eizelle | Einnistung der Blastozyste in der Gebärmutter | Vollständige Ausbildung des Gehirns, Beginn der Empfindungsfähigkeit | Geburt und Abnabelung |
Der deutsche Philosoph Norbert Hoerster (geb. 1937) beschäftigte sich 2002 mit der Frage "Wann beginnt menschliches Leben?“, um die Ethik eines Embryonenschutzes zu beleuchten – ab welchem Zeitpunkt kann einem Individuum das Menschenrecht auf Leben zugesprochen werden?
Nach Hoerster ist diese Zusprechung für einen Embryo nur dann gegeben, wenn es ein vorhandenes Überlebensinteresse zu schützen gibt. Eine Grenzziehung ist hierbei äußerst schwer. Bei Embryonen sieht Hoerster noch kein Überlebensinteresse gegeben, wie dies z.B. bei einem einjährigen Kind der Fall wäre. Dieses Interesse setze nicht als Embryo ein und müsse sich erst kontinuierlich weiterentwickeln.
An dieser Stelle muss nun eine klare Differenzierung erfolgen: Hoerster sieht auch bei Embryonen ein Bewusstsein und Empfindungsvermögen als gegeben an. Im Gegensatz dazu ist das Überlebensinteresse ein Schritt hin zum Ichbewusstsein. Auch messbare Abwehrreaktionen seien als Phänomen kein Nachweis für das Überlebensinteresse im Wortsinn selbst. Für Hoerster bedeutet Überlebensinteresse, dass das Individuum irgendwelche beobachtbaren Verhaltensweisen zeigt, aus denen sich auf eben dieses schließen ließe.
Er möchte in der Debatte sprachlich sensibilisieren. Überlebensinteresse sei kein punktuelles Lebensinteresse oder ein Überlebensinstinkt. Konkrete Wünsche nach Zuwendung oder Nahrung seien nur eine Annahme durch unsere außenstehende Perspektivwahrnehmung.
Das Recht auf Leben und das damit eng verbundene Überlebensinteresse sei das zentralste menschliche Interesse, das dem höchsten Schutz unterliege. Hoerster schlussfolgert daraus, dass uns mit der Geburt eine Grenze an die Hand gegeben wurde, die einen Punkt für Schutz und Recht aufstellt.
Der australische Philosoph Peter Singer (geb. 1946) widmete sich ebenfalls dem Beginn menschlichen Lebens und wem das Recht auf Leben zugesprochen werden könne.
Singer ist ein Vertreter der liberalen Praxis der Abtreibung und sieht darin auch eine ethische Legitimationsgrundlage. Dabei revidiert er die Unantastbarkeit menschlichen Lebens.
Für ihn zählt die Bewusstheit seiner selbst und die Bewusstheit seiner Zukunft, die sich erst nach der Geburt entwickeln. Die Entwicklung eines Selbstbewusstseins schaffe die Grundlage für ein Recht auf Leben, die den Menschen als Person anerkennt. Personen sind Menschen, die sich ihrer individuellen Existenz voll bewusst und zur Autonomie fähig sind.
Diese Grenzziehung ist durchaus radikal – denn nur eine sich selbstbewusste Person, die realisiert, was es bedeutet, wenn ihr Leben beendet wird, kann sich auch wünschen, weiterzuleben.
Er wirft die Frage auf, bis zu welchem Zeitpunkt man sich gegen das Leben entscheiden darf? Nach Singer entwickelt sich das Selbstbewusstsein innerhalb der ersten sechs Monate nach der Geburt – solange wäre eine Tötung moralisch zu rechtfertigen! ABER: Singer will dies nicht und fordert einen genaueren und früheren Zeitpunkt. Sein Vorschlag: einen Monat nach der Geburt. Bis zu diesem Zeitpunkt müssten sich Eltern, eine Ersatzfamilie oder Staat um das Kind kümmern, bis eine Entscheidung über Leben oder Tod gefällt würde. Ein späterer Zeitpunkt sei für uns als Gesellschaft schwer vorstellbar, da wir eine Entwicklung feststellen und eine Tötung nicht mehr hinnehmbar wäre (gedankliche Barriere für unser Handeln).
Zu Ende gedacht kommt hier ein Grund für Furcht und Empörung im Hinblick auf behinderte Menschen auf. Singer unterscheidet hier jedoch, dass derjenige, der verstehen könne, dass er am Leben sei, niemals in solche eine Lage komme. Singer geht es primär um den Verstehenshorizont in seiner Argumentation.
Bei medizinischen Untersuchungen konnten Wissenschaftler feststellen, dass Föten bis zur 34. Schwangerschaftswoche kaum messbare Hirnaktivitäten aufweisen und sich ein Nervensystem nur langsam entwickelt. Sie befinden sich in einem Zustand, der dem Schlaf ähnelt und somit eher als Bewusstlosigkeit definiert wird. Reizempfindungen entwickeln sich ab der 35. Schwangerschaftswoche. Wichtig ist hier, dass Empfindungsfähigkeit nicht mit Lebensrecht und absoluter Schutzwürdigkeit gleichgesetzt werden kann. Es sei ethisch vertretbar, mittels schmerzloser Methoden, Embryonen zu töten.
Bisher wurde eine rein moralisch/rechtliche Ebene beleuchtet. Die religiöse Perspektive soll nun hinzugezogen werden:
Der Rabbiner Walter Homolka bringt eine Sicht der modernen Stammzellforschung aus jüdischer Perspektive ins Spiel. Die Frage nach dem Wert menschlichen Lebens und die Eingriffe in diesen Bereich durch Forschung sind von größter Bedeutung.
Israel ist eines der Zentren embryonaler Stammzellforschung. Homolka betont dabei das Spannungsverhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaften, wenn es um Wissenserwerb und -erweiterung geht. Kranken muss geholfen werden, so das medizinische Gebot.
Das Judentum vertritt die Auffassung, dass ungeborenes Leben noch nicht mit der Befruchtung volle Rechte besitzt, sondern im Laufe der Entwicklung an Personenstatus gewinnt. Bis zum 40. Tag nach der Befruchtung ist die befruchtete Eizelle „bloß Wasser“. Der volle Personenstatus werde aber erst mit der Geburt selbst erreicht. Wichtig ist hierbei, dass Embryonen als potentielle Personen angesehen werden und somit schützenswert sind. Damit einhergehend besitzt der Embryo bereits Würde .
Jetzt kommt die medizinische Forschung ins Spiel – wenn ein Fötus abgetrieben (ohne religionsbedenkliche Gründe) wird, kann das Zellmaterial für Forschungszwecke verwendet werden.
Vor der Implantation in den Uterus sieht die Sachlage anders aus: Embryonen, die sich außerhalb des Mutterleibs (bis zum 40. Tag) befinden, besitzen keine eigeneständige Lebensfähigkeit. Weiterhin entstehen im Rahmen von In-Vitro-Fertilisationen (künstlicher Befruchtung) zwangsläufig überzählige Embryonen, die nicht weiterverwendet werden können. Diese dürfen ebenfalls zur Stammzellforschung verwendet werden, da auch diesen die Möglichkeit fehle, menschliches Leben zu werden.
Für Homolka ergibt sich hieraus ein klarer Nutzen für die Forschung. Es sei besser an Embryonen zu forschen und damit potentielles Leben zu retten, als sie bloß zu zerstören.
Eine weitere Möglichkeit zur Gewinnung von Stammzellen bietet das therapeutische Klonen. Dabei wird der Zellkern einer Körperzelle in eine entkernte Eizelle eingesetzt und die Zellteilung angeregt. Ab einem bestimmten Zellstadium kann der entstandene Embryo zerstört und Zellen entnommen werden. Diese können anschließend zur Züchtung bestimmter Gewebe (bspw. Haut oder anderer Organe) genutzt werden. Es geht hier vor allem um die Zweckmäßigkeit, die mit den Handlungen verfolgt wird. Die Schaffung und anschließende Zerstörung von Embryonen als Zweck an sich ist daher mit dem jüdischen Glauben nicht vereinbar. Dahingegen ist eine Stammzellforschung an bereits vorhandenen Stammzelllinien – auch an überschüssigen Embryonen – legitim.
Genau diese komplexe Abwägung zeigt den technologischen Fluch und Segen zugleich auf, weshalb ein verantwortungsvoller Umgang von höchster Relevanz ist.